Donnerstag, 28. November 2013

Die Verwahrten - Susanne Preusker


Seit zwei Jahren müssen hierzulande gefährliche Sexualstraftäter nach verbüßter Strafe und Sicherheitsverwahrung freigelassen werden. Wenn nun eine Psychologin, die selbst von einem solchen Häftling vergewaltigt worden ist, vor diesem Hintergrund eine Story schreibt, in der sie mehrere solcher Männer jeweils am Tag ihrer Entlassung entführen lässt, könnte man annehmen, dass sie eine Abrechnung mit den Tätern und den Verantwortlichen für die neue Rechtsprechung sucht. Vielleicht trifft das auch zu.



Aber das ist nur ein Nebenaspekt. Vor Allem hat Susanne Preusker einen spannenden Krimi abgeliefert, der Fragen aufwirft. Und der es schafft, dass man sich selbst dabei ertappt, Empathie für die eingekerkerten Männer zu empfinden: Wenn diese vom Entführer brutal misshandelt werden und einer zu entkommen versucht, fiebert man mit dem Vergewaltiger mit und fragt sich am Ende, wer hier eigentlich die Guten sind. Geschickt schafft es Preusker, ein stark boulevardisiertes Thema literarisch zu verarbeiten, und so hat das Buch durchaus das Potential, eine spannende Debatte anzustoßen. Denn das war es schließlich auch, was der Entführer beabsichtigt hatte, der nur vordergründig Rache üben wollte. Seine Intention war es, Heilung durch Nachempfinden der körperlichen Leiden herbeizuführen. Selten werden in einem Kriminalroman derart tiefgreifende, Fragen aufgeworfen – wie etwa die, ob eine demokratische Gesellschaft nicht verpflichtet ist, sich für diese kranken Männer einzusetzen, und wie mit den wirklich Unheilbaren umzugehen ist. Mehr kann ein guter Krimi wohl kaum leisten.

Susanne Preusker: Die Verwahrten. Frankfurt: Verlag Krimythos 2012. 304 S., 12,80€

Mittwoch, 20. November 2013

Der Steppenwolf – Hermann Hesse





Wie nähert man sich einem der bekanntesten Werke der Weltliteratur, dem meistgelesenen deutschen Roman des 20 Jahrhunderts, in einer Rezension, wo doch anzunehmen ist, dass der Inhalt nahezu jedem Leser bekannt sein dürfte? Vielleicht ist es ja eine gute Idee, dies mithilfe der zahlreichen handschriftlichen Randnotizen und Unterstreichungen, die dieser speziellen Ausgabe von den vorherigen Nutzern beigebracht wurden, zu versuchen.




Kernstück des prosaischen Meisterwerkes bildet das „Traktat vom Steppenwolf“, welches dem Protagonisten Harry Haller (nicht zufällig trägt dieser die Initialen des berühmten Autors) von einem befremdlich wirkenden Mann überlassen wurde, und in dem ganz direkt auf Harrys Leben Bezug genommen wird. Er sucht hierin nach Hinweisen, wie er mit seinen Selbstzweifeln und dem Konflikt zwischen seinen beiden Seelen, der wölfischen und der menschlichen, umzugehen hat und verschlingt die kurze philosophische Abhandlung gierig. Tatsächlich findet Harry hier ein paar wichtige Antworten und versöhnliche Aussagen, wie die, dass alle Menschen, nicht nur solche wie er, die ob ihres wilden, unangepassten Inneren mit sich und der Welt hadern, leiden müssen. Und dass selbst das unglücklichste Leben seine Sonnenseiten besitzt.

Denn dies ist ja eines der größten Probleme des Protagonisten (und vieler Leser): Einerseits lehnt er die verlogene bürgerliche Welt ab, andererseits fühlt er sich in ihr auch heimisch aufgehoben. Wer kann dem nicht beipflichten? In einer der handschriftlichen Randnotizen heißt es dazu: „Wie ich das teilweise bodenlose Niveau der Allgemeinheit hasse!... Normen sind Fesseln, denen wir uns fügen müssen“.

Und auch dem Rezensenten half das Buch als Erklärung und Versöhnung mit dem eigenen Ich, wenn im Traktat festgestellt wird, dass eines jeden Menschen Leben zwischen tausenden von Polen hin und her schwingt, dass niemand also immer im inneren Gleichgewicht mit sich selbst sein kann, sondern aus unzähligen Ich-Partialitäten besteht. Es gibt keinen Grund, mit dieser Tatsache zu hadern! Wir sollten sie erkennen, sie annehmen, uns selbst lieben. Der Weg zur Unsterblichkeit indes bleibt uns dadurch verschlossen. Dieser nämlich führt weg aus der Gesellschaft und überwindet dabei alle fesselnden Normen. Nur sehr wenige folgen ihm, und das ist auch gut so, denn diese Straße ist gar nicht breit genug, als dass sie alle Menschen gehen könnten. Sie ist "...wenigen Auserwählten vorbehalten, die durch Hingabe, Leidensbereitschaft und Gleichgültigkeit gegen alle bürgerlichen Ideale die zwangsläufige Vereinsamung zu erdulden fähig sind."

Fabelhaft, rührend und überaus menschlich (ein weiterer Beweis, dass Hesse die Menschen sehr gut studiert hat) ist dann der weitere Verlauf der Geschichte. Getrieben von suizidalen Gedanken trifft Harry auf ein junges, selbstbewusstes Mädchen, das es schnell schafft, eine weitere seiner unzähligen Saiten zum Klingen zu bringen. Es ist die größte Kraft, die uns mit auf unseren (Leidens-) Weg gegeben wurde und wohl die einzige, die ihn lohnenswert und erträglich macht: Die Liebe! Wunderbar modern erzählt Hesse von deren verschlungenen Pfaden und davon, was sie in uns auszulösen vermag. Der einsame Steppenwolf lernt das Leben in Gesellschaft, er tummelt sich auf philanthropischen Veranstaltungen wie Tanzbällen und genießt schließlich wie im Rausch die Aufmerksamkeit der Frauen, betört von deren unterschiedlichsten Düften. Wie sehr gönnt man ihm diese Erfahrung und wie gut kann man Harrys 180-Grad- Wendung wider seiner bestehenden tiefgreifenden Selbstzweifel nachvollziehen! Als Kommentar steht so schön trefflich am Rand: „Wie schnell er seine Psycho-Scheiße vergessen kann!“

In einer Szene des Romans hört der Steppenwolf drahtlose Musik aus einem der ersten Radioapparate, die zwar noch stark verrauscht klingt, doch weiß er, dass sich dies schnell ändern wird. Und hier folgert er mit einer Mischung aus erhabener Weisheit und einem gewissen prophetischen Spürsinn für unsere mediale Zukunft: dieses Gerät habe doch lediglich das zu Tage gebracht, was die alten Inder (und jeder Denker) schon immer wussten: Die Allgegenwärtigkeit aller Kräfte und Taten. Und außerdem, als hätte er die vorherrschende Mulimedialität des 21. Jahrhunderts vorhergesehen, die uns heute umgibt, weiß er, dass dies alles „… den Menschen nur dazu dienen werde, von sich und ihrem Ziel weg zu fliehen … und sich mit einem Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein zu umgeben“. Dass diese Feststellung am Rande als so wahr!“ kommentiert wird und einer der vorherigen Leser „darüber nicht lachen kann“ können sogar Smartphoneliebhaber gut nachvollziehen.

Selbst den Lesern, die sich nichts aus Fleisch machen, wird der Vergleich, den Harrys neue Freundin anführt - das Ablösen des köstlichen hellen Fleisches von einem Entenbeinchen ist so appetitlich und spannend ist, wie wenn ein Verliebter seinem Mädchen das erste mal aus der Jacke hilft - verständlich sein. Schließlich will uns Hesse hiermit nicht den Vegetarismus verderben, sondern sagen, was  treffend im Randkommentar für die nächsten Leser festgehalten ist: „Du musst dich begeistern lassen können – ein Leben lang.

Dass Hesse von den Nazis verboten wurde, versteht sich von selbst. Wer so klar gegen Staat, Autoritäten und Krieg argumentiert wie der Steppenwolf, ist natürlich ein gefürchteter Gegner totalitärer Systeme. Harry verzweifelt an der Tatsache, dass die Menschen um ihn herum nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit nahezu ungebremster Lust auf den nächsten fürchterlichen Weltkrieg zusteuern. Und auch wenn er einsieht, dass er mit seinen Zeitungsartikeln gegen den Krieg die nächste Mobilmachung nicht wird verhindern können, so steht er doch dafür ein, es wenigstens zu versuchen. Dieser Donquichotterie wird am Rande dieser Ausgabe mit „Trotzdem sollte man sich darüber Gedanken machen“ zugestimmt.

Im fulminanten Schlussakt des Buches, der in einem Magischen Theater angesiedelt ist, dass dem drogenberauschten Harry Haller übernatürliche Möglichkeiten eröffnet, durchlebt er eine Szene aus seiner Kindheit. Damals hatte er das erste Mal die Liebe gespürt, wenngleich diese noch eine keusche und kindliche war. Im Gegensatz zur längst vergangenen Realität hat Harry jedoch nun den Mut, Rosa anzusprechen, beichtet ihr seine überschäumende Liebe und genießt die Erwiderung seiner Gefühle . Nur Wenigen ist es vergönnt, diese Erfahrung auch im wirklichen Leben zu machen, doch soll es in der Tat auch solche Lieben geben, die 20 Jahre und mehr im Bereich des Unmöglichen und mit großer Verzögerung dann doch noch zum Blühen kommen. Am Rande steht an dieser Stelle steht im Buch in kleinen handschriftlichen Buchstaben: „Mir gefällt, wie geschickt Hesse die Fehlbarkeit der menschlichen Rasse darstellt. Denn schon zum zweiten Mal meint Harry, vorher noch nie so geliebt zu haben“. Was dann doch sehr versöhnlich stimmt und möglicherweise eine wichtige Grundaussage Hesses großartigen Werkes beinhaltet. Wäre es nicht unerträglich, wenn uns die Lasten unerwiderter, vergangener Lieben und die Zerrissenheit in Wolf und Mensch ein Leben lang quälten? Hesse zeigt uns, dass in dieser banalen Welt jeder, sogar der brummbärtige Steppenwolf, sein Glück finden kann, selbst wenn es nur Stunden oder Tage währt. Er muss es nur suchen – oder sich vom Glück finden lassen.

Samstag, 2. November 2013

Die Leinwand – Benjamin Stein

Ein wichtiger Unterschied zwischen einem Blockbuster und einem richtig guten Film ist, dass bei letzterem gern auch mal ein paar Fragen offen bleiben dürfen. Dass man noch Tage damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, mit Freunden diskutiert – sich einfach mitreißen lässt. 

Und genau dies zeichnet auch Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“ aus. Obwohl bei sorgfältigem Lesen und längerem Überlegen schon einige der Handlungsknoten aufgelöst werden können, bleiben einige Grundsätzlichkeiten doch völlig im Nebel der Unbestimmtheit verborgen. Aber das ist nicht die einzige Begründung dafür, dass es sich hierbei um einen ganz besonderen Roman handelt. Doch Halt! Der Plural ist hier angebracht, denn im Grunde genommen sind es zwei Bücher, die in einem gemeinsamen Einband daher kommen und verdreht bzw. gespiegelt gedruckt wurden. So kann man die beiden Geschichten, die anfangs kaum Bezug zueinander haben, auf verschiedene Weise lesen: Erst die aus der Sicht des Jan Wechsler, jüdisch-orthodoxer Schriftsteller und Verleger, der in München lebt und zu Beginn einen Koffer zugestellt bekommt, den er gar nicht vermisst, welcher aber mit einem in seiner eigenen Handschrift versehenen Adressanhänger versehen ist. Anschließend dann wendet man das Buch und liest die Lebensgeschichte des Amron Zichroni, ebenfalls orthodox lebender Jude, der die Gabe besitzt, die Gefühle und Erlebnisse seiner Mitmenschen am eigenen Leibe nachempfinden zu können, als wäre er selbst diese Person. Man kann aber auch nach jeweils einem Kapitel der einen wieder zur anderen Erzählung hinüber wechseln. Fragen entstehen ohnehin immer wieder, und erst gegen Ende, wenn beide Geschichten schließlich in der Mitte des Buches zusammenfinden, erschließen sich dem Leser die Gemeinsamkeiten und verbindenden Elemente. Doch wird, wie eingangs bereits erwähnt, längst nicht alles geklärt, was dem Werk indes keinen Abbruch tut.

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Neben der spannenden Handlung und der interessanten Idee zweier aufeinander zulaufender Geschichten gibt es aber noch weitere Argumente, diesen Roman als absolut lesenswert zu empfehlen: Legt der Leser beispielsweise erst einmal seine Voreingenommenheit zur Orthodoxie beiseite, kann „Die Leinwand“ ganz bestimmt dazu beitragen, die Gründe dafür, dass viele Menschen (nicht nur religiöse) heute noch nach den Vorschriften der Urväter leben, besser verstehen. Dazu muss man weder gläubig noch jüdisch sein, sondern lediglich eine gewisse Offenheit mitbringen. Dann kann es gelingen, den teilweise völlig unverständlichen oder mystischen Bräuchen, Sitten und Verboten ein wenig näher zu kommen, und man ahnt, dass gerade in dieser schnelllebigen und verrückten Zeit das Einhalten bestimmter Vorschriften Sicherheit und Halt geben kann. Nun kann man zu Religion stehen, wie man will, und Keinem ist es zu verübeln, wenn er sich ganz von ihr abwendet, in Zeiten, in denen sich Bischöfe (wieder) Paläste bauen und sogar buddhistische Mönche von ihrer Friedlichkeit abrücken und Jagd auf Andersgläubige machen. Doch ist es schon bezeichnend, wenn Amron Zichroni, der ja nun aufgrund der konservativen Auslegung seines Glaubens weiß Gott einige Schwierigkeiten zu bewältigen hat, die uns allen völlig fremd sind, den „Ewigen“ immer als Gütigen erlebt und verstanden hat, während er im konservativen Christentum mit Verboten, Strafen und Angst vor der Hölle konfrontiert wurde.

Wie in den meisten Romanen so ist natürlich auch in diesem ein gutes Stück Autobiographie enthalten. Die völlig unreligiöse Ostberliner Kindheit im „kleinen Land“ etwa, die Hinwendung zum Judentum, der Umzug nach München und vieles Andere verbinden die Leben Jan Wechslers und Benjamin Steins. Dies macht „Die Leinwand“ zu einem authentischen Erlebnis, das oft mit ungeahnten Sprüngen den Geist des Lesers verwirrt, aber auch fesselt. Und wie recht häufig in der Literatur spielen auch hier andere Bücher für die Geschichte(n) eine Schlüsselrolle, und so nutzt Stein sehr geschickt die Kniffe des „Roman im Roman“: Es sind dies die „Aschentage“, eine autobiographische Erzählung des Geigenbauers Minsky (welche im Übrigen auf einem wahren Literaturskandal beruht, den Binjamin Wilkomirski mit seiner angeblichen Auschwitz-Vergangenheit seinerzeit auslöste) und die „Maskeraden“. Letzteres ist Jan Wechslers heftige Antwort auf die „Aschentage“, in denen er Minsky der Lüge bezichtigt und letztendlich dessen Leben zerstört, wie er sich später selbst eingestehen muss.

Auch wenn die vielen hebräisch-jüdischen Fachausdrücke im Text mitunter etwas anstrengen, so sollte man sich ruhig die Zeit nehmen, während der Lektüre hin und wieder das in der Mitte des Buches aufgeführte Glossar zu nutzen. Das bereichert das Allgemeinwissen und trägt zum besseren Verständnis bei. Und nach der durchaus auch vergnüglichen Lektüre dieses Romans wird man sicher beim nächsten New-York-Besuch oder der kommenden Israelreise mit einem wohlwollenden und wissenden Blick auf die Schwarzhüte mit ihren Löckchen schauen. Was dann auch ganz im Sinne von Lessings weisem Nathan wäre.