Samstag, 20. April 2013

Der Zeitverkäufer – Fernando Trias de Bes




Persönliche Empfehlungen haben sich noch immer als die besten Buchtipps herausgestellt, und so sei diese außergewöhnliche und phantastische Geschichte ebenfalls allen ans Herz gelegt, die nach neuen Wegen im alltäglichen Kampf um freie Zeit suchen oder ganz einfach nur eine zum Denken anregende, sehr schön geschriebene Story konsumieren möchten


Der allseits bekannte, allgemein akzeptierte und doch im Grunde genommen wahrlich perverse Spruch „Zeit ist Geld“ wird hier auf die Spitze getrieben, und man erkennt beim Lesen recht schnell, dass unsere moderne Gesellschaft einzig darauf beruht, dass uns unsere Lebenszeit vom „System“ für vergleichsweise wenig Geld abgekauft wird. Um mit der Lektüre nicht zu viel von dieser wertvollen Zeit zu verschwenden, hat der Autor daher ein paar selbsterklärende Abkürzungen eingeführt und damit unnötige Redundanzen entfernt. (Natürlich ist das „unnötig“ an dieser Stelle vollkommen unnötig, weil der Begriff „Redundanz“ die Unnötigkeit von Dopplungen bereits impliziert).

Am Beispiel des Protagonisten NT (Normaler Typ), seiner Frau NTF und den beiden Kindern NTK1 sowie NTK2 wird das Fiasko dieses teuflischen Pakts „Zeit gegen Geld“, das die Mehrheit der Menschen in unserer westlichen Gesellschaft gefangen hält, veranschaulicht: NT zieht eine ganz einfache, aber aussagekräftige Zwischenbilanz seines Lebens und kommt zu dem Schluss, dass er für sein eigentliches Interesse niemals Zeit finden wird. Grund ist das schlechte Verhältnis zwischen Hypothek und Einkommen, welches ihn für 35 Jahre an Bank und Job fesseln wird. Oder, wie es ein Vertreter der Unternehmer später gegenüber eines Regierungsverantwortlichen ausdrücken wird: „Das System basiert darauf, den Leuten Geld zu leihen, und im Gegenzug stellen diese dem System ihre Zeit als Arbeitszeit zur Verfügung. Die Menschen dürfen nicht Herren ihrer eigenen Zeit sein, sonst geht alles den Bach runter!“

So springt NT  schließlich über seinen eigenen Schatten, kündigt und macht sich in der (Tief-) Garage seines Hauses selbständig, weil er in seinem Marketing-Kurs gelernt hat, dass alle große Firmen in einer Garage gegründet worden seien. Seine Frau ist über diese Tatsache so entsetzt, dass sie ihm lediglich eine Frist von einer Woche gewährt, bevor sie mit den Kindern zurück zu ihren Eltern zieht.

Doch dies wird nicht notwendig sein, denn NT hat eine der genialsten Ideen aller Zeiten. Zwar werden die Realisten unter der Leserschaft deren Erwähnung als Unmöglichkeit abtun, doch ist dies ja nun einmal der Vorteil einer ersonnenen Geschichte. Sie darf ersponnen sein und kann dennoch absolut glaubwürdig daherkommen: NT stellt ganz einfach und immer auf Korrektheit bedacht leere Plastikfläschlein vor je einen Wecker und füllt deren Zeit im Fünf-Minuten-Takt ab. Die Flaschen werden über Nacht zum Kassenschlager, denn nun kann sich jeder auf völlig legale Weise für fünf Minuten von allen Verpflichtungen freikaufen. Paare schrauben ihre Zeitvorräte gleichzeitig auf, um sich in der Mittagspause kurz für einen Kuss treffen zu können, Sekretärinnen nutzen die Zeit für ein Nickerchen auf dem Schreibtisch, und kein Chef der Welt könnte etwas dagegen unternehmen. Schließlich bezahlen die Mitarbeiter für die Freizeit, indem sie einen kleinen Abstrich auf ihrer monatlichen Lohnabrechnung hinnehmen. Alle profitieren von diesem Geschäft, denn das Betriebsklima steigt merklich an, die Krankmeldungen gehen zurück und NT verdient mit der Abfüllung der Zeit eine Menge Geld. Doch ach, die Gier, sie kommt ins Spiel und mit ihr die Unzufriedenheit in den Chefetagen der Unternehmen. Erst sind es Zwei-Stunden-Behälter, die reißenden Absatz finden, doch als schließlich Eine-Woche-Container verkauft werden, wird es auch der Regierung dann zu bunt. Anfangs hatte diese noch die Argumente der Unternehmer ignoriert („Der Verkauf von Z stellt für die Konsumgesellschaft eine Bedrohung dar.“) und mit dieser gut gemeinten, im Grunde jedoch regelrecht schmutzigen Antwort gekontert: „Wir leben in einer freien Marktwirtschaft, in der die Bürger alles kaufen können, was ihr Herz begehrt, sogar ihre eigene Zeit.“ Doch nun sieht sie sich zum Handeln gezwungen, weil das Bruttosozialprodukt und damit die Steuereinnahmen sprunghaft absinken.

Wer bis hierher einfach nur eine amüsante Geschichte las, begreift auf der Stelle, dass es sich hierbei um sein eigenes Leben handelt. Dies geschieht spätestens, wenn sich die Unternehmerschaft beschwert, dass den Mitarbeitern genau so viel Lohn abgezogen wird, wie es dem Verhältnis der nicht geleisteten Arbeit zum Stunden-Soll entspricht. Doch für die Firmen geht für eine nicht geleistete Arbeitsstunde das Zehnfache dieses Wertes verloren, weil ja schließlich der ausgebliebene Gewinn entscheidend ist und nicht nur die Lohnkosten. Und nun kommt so ein normaler Typ daher und stellt dieses seit Generationen erprobte Prinzip auf den Kopf! Die Regierung schreitet ein und die Geschichte nimmt (s)einen an dieser Stelle nicht weiter erwähnten Verlauf (eigentlich sind es deren sogar zwei, doch das muss nun jeder selber lesen).

Das Potential dieser abstrusen Geschichte und die darin enthaltene Gesellschaftskritik sind schnell erkannt, doch auch die Sprache des Buches ist es, die Lust aufs Lesen macht. So erfreut  man sich über manch wahrhaft gelungene Formulierung, die einen wirklich guten Schriftsteller von der Masse der Schreiberlinge abhebt. So famos um die Ecke formuliert und wunderbar treffend ist dieser Satz, den die Frau des Protagonisten dem Psychiater ihres Mannes, der ein Verhältnis mit ihrer Nachbarin hat, entgegenschleudert, als dieser sie allein in einem Raum sprechen will: „Meinen Mann heilen ist eines, meine Nachbarin betrügen etwas ganz anderes.“ Ja, das muss man schon zwei mal lesen aber wenn es dann Klick macht…!






Mittwoch, 17. April 2013

Was scheren mich die Schafe – Anke Richter



Die im neuseeländischen Christchurch lebende deutsche Journalistin Anke Richter hat in diesem amüsanten und lehrreichen Buch ihre TAZ-Kolumnen zusammengestellt, die sich wirklich sehen lassen können. Natürlich sind die Geschichten, die einen sehr tiefen Blick in die Seele der Kiwis  - aber auch in die der Auswanderin – werfen, insbesondere für Neuseelandfreaks und Weltenbummler gedacht. Aber auch der normale Durchschnittsdeutsche oder die Träumerin, die ihr Leben lang davon phantasiert, ans andere Ende der Welt umzusiedeln, kommen auf ihre Kosten und erhalten kluge Einsichten in eine Kultur, die unserer zwar in Vielem ähnelt, sich aber auch oft sehr stark vom Deutschen unterscheidet.



Hätte der Rezensent diese als Erklärung und Warnung vor mancher Kultur-Falle zu verstehenden Texte doch nur vor seinem Neuseeland-Jahr studiert! Dann hätte er dort nicht täglich erneut den Fehler begangen, auf die sich wie ein Mantra wiederholende Frage nach seinem Befinden (How are you?) höflich zu einem längeren Monolog über die Gesamtsituation der Familie und deren Unternehmungen der letzten Tage auszuholen. Und er wäre dann auch nicht immer wieder über das gelangweilte Gesicht des Fragestellers verwundert gewesen, der lediglich ein knappes, gelogenes „fine“ erwartet hatte.

Faszinierend an den Einsichten und Gedanken Richters ist insbesondere die Tatsache, wie ehrlich sie davon berichtet, sich oft für ihr Deutschsein zu schämen und warum sie vermeidet, sich vor Landsleuten zu erkennen zu geben. Und wie sie dann doch den Kontakt zu den vor Ort lebenden Germanen sucht. All dies erinnert an die gleichen Gefühle, Gedanken und Handlungen, die den Rezensenten während seiner Zeit in Auckland befielen. Eigentlich will man mit den peinlichen und meckernden Deutschen so überhaupt nichts zu tun haben. Doch nach einer Weile weiß man deren Verlässlichkeit und Backkünste dann doch wieder zu schätzen und lästert gemeinsam über die eigentümlichen Kiwis mit ihren Themenparties und seltsam unfestlichen Weihnachtsumzügen.

Richters durch die deutsche Brille gefilterte Einblicke in die neuseeländische Gesellschaft sind oft urkomisch und immer grundehrlich, auch wenn dem Leser manchmal das Lachen im Halse stecken bleibt. Etwa beim Bericht über eine Gegendemonstration zu einem kleinen Naziaufmarsch, von dem sie berichtet, dass auch ein Maori auf der Seite der Rechten steht. Richters verblüffter, schwarzhumoriger Kommentar: „Ich glaube, hier sind selbst die Neonazis bikulturell.“

Doch wenn die Ausgewanderte dann über eine neuseeländische Single-Party auf dem Lande berichtet, entfernt sie sich zum Glück schnell wieder von den deutschen Eigenschaften des Hinterfragens und der alles bestimmenden Ernsthaftigkeit und berichtet von den Erfahrungen einer Freundin, die das Experiment eines Dialogs mit den teils gut aussehenden Landeiern bereits unternommen hatte: „…versuch mal eine Konversation mit denen. Dagegen kommt dir Kaspar Hauser wie Goethe in Höchstform vor. Und falls sie den Mund aufkriegen, ist ihr größtes Kompliment: ‚Nice tits’“. Begründet wird die seltsam unmodern anmutende Verklemmtheit der Kiwis mit deren prüder Erziehung. Diese dürfte letztendlich auch am hemmungslose Verhalten der Vertreter beider Geschlechter Schuld sein, das diese an den Tag legen, wenn der Damm erst einmal gebrochen ist. Da kann auch die an die deutsche Freizügigkeit gewohnte Autorin nur noch schulterzuckend konstatieren: „Auch ich habe eine Schamgrenze“, wenn die übriggebliebenen Partiegäste sich zum „Resteficken“ an den dunklen Strand aufmachen.

Und auch für einen kleinen Einblick in die Maori-Kultur eignet sich diese Kolumnen-Sammlung hervorragend. Richter berichtet von einem sogenannten Marae, einem Einführungskurs in die Kultur der Ureinwohner, den sie zusammen mit einigen gelangweilten Studenten und ihrer übereifrigen deutschen Freundin Eva besucht. Diese wird im Verlaufe des mehrtägigen Kurses so stark vom Maori-Virus infiziert, dass sie sich vor versammelter Mannschaft begeistert den Namen ‚Aroha’ gibt. Das bedeutet Liebe und dient dazu, :“das Unrecht der Kolonialisierung gutzumachen“ .Wenn sich Eva damit mal nicht zu viel vorgenommen hat! Wahrscheinlich brauchte sie nur endlich mal einen Gegenpol zu ihrem Ehemann, dem Mäckerbäcker, und fühlte unter den Maoris das erste Mal, dass sie nach vielen,  langen Monaten endlich nun in Neuseeland angekommen war.



‚Was scheren mich die Schafe’ ist sicherlich kein Buch, das man in einem Stück verschlingt, weil man unbedingt wissen will, wie die Handlung fortschreitet. Es ist ja auch kein Roman. Aber es ist die ideale Urlaubsvorbereitung bzw. Urlaubslektüre. Nicht nur für Menschen, die sich ins Land der großen weißen Wolke sehnen oder Aotearoa bereits kennen lernen durften, sondern für alle, die den trockenen Humor der Autorin sowie die lässige Art der surfenden und beneidenswert entspannten Kiwis zu schätzen wissen.


Montag, 15. April 2013

Das wilde Kind – T.C. Boyle



Gewisse Ähnlichkeiten mit der bekannten Geschichte des Kaspar Hauser oder dem wunderschönen Film „Alabama Moon“ drängen sich bei der Lektüre dieses kleinen, ergreifenden Büchleins auf, das auf der wahren Lebensgeschichte des Victor von Aveyron, einem sogenannten Wolfskind, beruht. Sowohl Kaspar Hauser als auch Victor wachsen ohne soziale Bindungen auf, werden dann mehr oder weniger vergeblich sozialisiert und sterben jung.






Hat man die Geschichte zu Ende gelesen, fragt man sich traurig, warum um alles in der Welt mussten die Dörfler den nackten, wilden Jungen unbedingt einfangen und zu „Forschungszwecken“ nach Paris geben. Es ist die gleiche Fragestellung, die man am Ende des genannten Films hinsichtlich des tapferen Moon aus Alabama im Kopf hat. Ob dieser im Haus seiner Verwandtschaft wirklich glücklicher ist als im geliebten Wald? Warum hat man Victor nicht einfach in Ruhe durch die Wälder streunen lassen, wo er sich selbst im Winter nackt und behände durch die Büsche bewegte, rohe Eicheln und kleine Nagetiere aß und mit Sicherheit ein erfüllteres Leben führte als im Taubstummenheim, wo er tagein tagaus vom ambitionierten Dr. Itard mit allerlei Lernaufgaben gequält wurde? Unbedingt wollte dieser sich und der Welt beweisen, dass der Wilde kein Idiot sei, nur weil er auch in der Öffentlichkeit völlig ungehemmt an seinem Penis spielte, im Stehen schiss (bevorzugt auf Teppiche) und im Sitzen pinkelte. Daher unterzog er ihn, dem weder Hitze (gern holte Victor sprichwörtlich die Kartoffeln aus dem Feuer, aber mit der Hand!) noch Kälte etwas ausmachte, einer „Umerziehung“, die ihn ein für allemal die Rückkehr in die Freiheit unmöglich machte: Tägliche Wannenbäder und zu viele Bratkartoffeln verweichlichten den Jungen, so dass dieser nach seiner Flucht aus der Anstalt keine drei Tage in der Stadt, vor der er verständlicherweise richtig gehend Angst hatte, bestehen konnte. So döste und siechte er nach Jahren der vergeblichen „Erziehung“ bei Itard schließlich 20 Jahre bei seiner liebevollen Ziehmutter dahin, wobei er neben Essen („als litte er noch immer Hunger“) nichts tat als aus dem Fenster zu schauen und im Hof liegend den Bewegungen der Wolken zuzusehen. Zeitlebens blieb es für ihn ein Mysterium, dass er sich jederzeit satt essen und trinken konnte: „Er trank ein Glas Wasser nach dem anderen, die Urflüssigkeit, die ihn zurück versetzte in die Zeit der Freiheit und Entbehrung, und starrte dorthin, wo das Gras hoch war und die Zweige der Bäume sich im Wind wiegten.“

Berührend und faszinierend erkennt der Leser, wie stark wir Menschenkinder von unserer Umgebung geprägt werden und dass ein Kind, dem all die vielerlei Konventionen, die in einer menschlichen Gesellschaft zumindest teilweise vonnöten sind, gänzlich unbekannt sind, ganz andere, natürlichere Verhaltensmuster an den Tag legt. Eine Bewertung dieser Tatsache wird dem Leser nicht abgenommen und er muss sich selbst ein Urteil über den Erziehungsversuch bilden, wenn er erfahren hat, wie Victor sich völlig selbstverständlich und aus einem inneren Trieb heraus von hinten einem Mädchen annähert, um es „unsittlich“ zu berühren. Oder wie er ohne darüber nachzudenken, dass seine Tischgenossen vielleicht auch hungrig sind, alles hortet, was er an Speisen raffen kann, um es zu verschlingen, zu verstecken oder zu vergraben.

Als Victor, der weder über ein Schamgefühl noch über Mitleid, Kameradschaft oder Großzügigkeit verfügte, bei einem Picknick seine Stiefschwester Julie an der Hand in sein Versteck führt, wird es einem richtig warm ums Herz. Er knetet sanft ihre Knie, streichelt ihr Haar, zeigt ihr seinen Vorrat an Brötchen und als dem jungen Mädchen die Situation unangenehm wird und sie zurück zu den anderen geht ruft er verzweifelt „Lie! Lie!“, das einzige Wort, das er aussprechen konnte. „Und dann bot er ihr in einer Art Verzweiflung und als überwältigenden Ausdruck seiner Liebe die Überreste eines halbgegessenen Brotes dar.“