Donnerstag, 28. November 2013

Die Verwahrten - Susanne Preusker


Seit zwei Jahren müssen hierzulande gefährliche Sexualstraftäter nach verbüßter Strafe und Sicherheitsverwahrung freigelassen werden. Wenn nun eine Psychologin, die selbst von einem solchen Häftling vergewaltigt worden ist, vor diesem Hintergrund eine Story schreibt, in der sie mehrere solcher Männer jeweils am Tag ihrer Entlassung entführen lässt, könnte man annehmen, dass sie eine Abrechnung mit den Tätern und den Verantwortlichen für die neue Rechtsprechung sucht. Vielleicht trifft das auch zu.



Aber das ist nur ein Nebenaspekt. Vor Allem hat Susanne Preusker einen spannenden Krimi abgeliefert, der Fragen aufwirft. Und der es schafft, dass man sich selbst dabei ertappt, Empathie für die eingekerkerten Männer zu empfinden: Wenn diese vom Entführer brutal misshandelt werden und einer zu entkommen versucht, fiebert man mit dem Vergewaltiger mit und fragt sich am Ende, wer hier eigentlich die Guten sind. Geschickt schafft es Preusker, ein stark boulevardisiertes Thema literarisch zu verarbeiten, und so hat das Buch durchaus das Potential, eine spannende Debatte anzustoßen. Denn das war es schließlich auch, was der Entführer beabsichtigt hatte, der nur vordergründig Rache üben wollte. Seine Intention war es, Heilung durch Nachempfinden der körperlichen Leiden herbeizuführen. Selten werden in einem Kriminalroman derart tiefgreifende, Fragen aufgeworfen – wie etwa die, ob eine demokratische Gesellschaft nicht verpflichtet ist, sich für diese kranken Männer einzusetzen, und wie mit den wirklich Unheilbaren umzugehen ist. Mehr kann ein guter Krimi wohl kaum leisten.

Susanne Preusker: Die Verwahrten. Frankfurt: Verlag Krimythos 2012. 304 S., 12,80€

Mittwoch, 20. November 2013

Der Steppenwolf – Hermann Hesse





Wie nähert man sich einem der bekanntesten Werke der Weltliteratur, dem meistgelesenen deutschen Roman des 20 Jahrhunderts, in einer Rezension, wo doch anzunehmen ist, dass der Inhalt nahezu jedem Leser bekannt sein dürfte? Vielleicht ist es ja eine gute Idee, dies mithilfe der zahlreichen handschriftlichen Randnotizen und Unterstreichungen, die dieser speziellen Ausgabe von den vorherigen Nutzern beigebracht wurden, zu versuchen.




Kernstück des prosaischen Meisterwerkes bildet das „Traktat vom Steppenwolf“, welches dem Protagonisten Harry Haller (nicht zufällig trägt dieser die Initialen des berühmten Autors) von einem befremdlich wirkenden Mann überlassen wurde, und in dem ganz direkt auf Harrys Leben Bezug genommen wird. Er sucht hierin nach Hinweisen, wie er mit seinen Selbstzweifeln und dem Konflikt zwischen seinen beiden Seelen, der wölfischen und der menschlichen, umzugehen hat und verschlingt die kurze philosophische Abhandlung gierig. Tatsächlich findet Harry hier ein paar wichtige Antworten und versöhnliche Aussagen, wie die, dass alle Menschen, nicht nur solche wie er, die ob ihres wilden, unangepassten Inneren mit sich und der Welt hadern, leiden müssen. Und dass selbst das unglücklichste Leben seine Sonnenseiten besitzt.

Denn dies ist ja eines der größten Probleme des Protagonisten (und vieler Leser): Einerseits lehnt er die verlogene bürgerliche Welt ab, andererseits fühlt er sich in ihr auch heimisch aufgehoben. Wer kann dem nicht beipflichten? In einer der handschriftlichen Randnotizen heißt es dazu: „Wie ich das teilweise bodenlose Niveau der Allgemeinheit hasse!... Normen sind Fesseln, denen wir uns fügen müssen“.

Und auch dem Rezensenten half das Buch als Erklärung und Versöhnung mit dem eigenen Ich, wenn im Traktat festgestellt wird, dass eines jeden Menschen Leben zwischen tausenden von Polen hin und her schwingt, dass niemand also immer im inneren Gleichgewicht mit sich selbst sein kann, sondern aus unzähligen Ich-Partialitäten besteht. Es gibt keinen Grund, mit dieser Tatsache zu hadern! Wir sollten sie erkennen, sie annehmen, uns selbst lieben. Der Weg zur Unsterblichkeit indes bleibt uns dadurch verschlossen. Dieser nämlich führt weg aus der Gesellschaft und überwindet dabei alle fesselnden Normen. Nur sehr wenige folgen ihm, und das ist auch gut so, denn diese Straße ist gar nicht breit genug, als dass sie alle Menschen gehen könnten. Sie ist "...wenigen Auserwählten vorbehalten, die durch Hingabe, Leidensbereitschaft und Gleichgültigkeit gegen alle bürgerlichen Ideale die zwangsläufige Vereinsamung zu erdulden fähig sind."

Fabelhaft, rührend und überaus menschlich (ein weiterer Beweis, dass Hesse die Menschen sehr gut studiert hat) ist dann der weitere Verlauf der Geschichte. Getrieben von suizidalen Gedanken trifft Harry auf ein junges, selbstbewusstes Mädchen, das es schnell schafft, eine weitere seiner unzähligen Saiten zum Klingen zu bringen. Es ist die größte Kraft, die uns mit auf unseren (Leidens-) Weg gegeben wurde und wohl die einzige, die ihn lohnenswert und erträglich macht: Die Liebe! Wunderbar modern erzählt Hesse von deren verschlungenen Pfaden und davon, was sie in uns auszulösen vermag. Der einsame Steppenwolf lernt das Leben in Gesellschaft, er tummelt sich auf philanthropischen Veranstaltungen wie Tanzbällen und genießt schließlich wie im Rausch die Aufmerksamkeit der Frauen, betört von deren unterschiedlichsten Düften. Wie sehr gönnt man ihm diese Erfahrung und wie gut kann man Harrys 180-Grad- Wendung wider seiner bestehenden tiefgreifenden Selbstzweifel nachvollziehen! Als Kommentar steht so schön trefflich am Rand: „Wie schnell er seine Psycho-Scheiße vergessen kann!“

In einer Szene des Romans hört der Steppenwolf drahtlose Musik aus einem der ersten Radioapparate, die zwar noch stark verrauscht klingt, doch weiß er, dass sich dies schnell ändern wird. Und hier folgert er mit einer Mischung aus erhabener Weisheit und einem gewissen prophetischen Spürsinn für unsere mediale Zukunft: dieses Gerät habe doch lediglich das zu Tage gebracht, was die alten Inder (und jeder Denker) schon immer wussten: Die Allgegenwärtigkeit aller Kräfte und Taten. Und außerdem, als hätte er die vorherrschende Mulimedialität des 21. Jahrhunderts vorhergesehen, die uns heute umgibt, weiß er, dass dies alles „… den Menschen nur dazu dienen werde, von sich und ihrem Ziel weg zu fliehen … und sich mit einem Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein zu umgeben“. Dass diese Feststellung am Rande als so wahr!“ kommentiert wird und einer der vorherigen Leser „darüber nicht lachen kann“ können sogar Smartphoneliebhaber gut nachvollziehen.

Selbst den Lesern, die sich nichts aus Fleisch machen, wird der Vergleich, den Harrys neue Freundin anführt - das Ablösen des köstlichen hellen Fleisches von einem Entenbeinchen ist so appetitlich und spannend ist, wie wenn ein Verliebter seinem Mädchen das erste mal aus der Jacke hilft - verständlich sein. Schließlich will uns Hesse hiermit nicht den Vegetarismus verderben, sondern sagen, was  treffend im Randkommentar für die nächsten Leser festgehalten ist: „Du musst dich begeistern lassen können – ein Leben lang.

Dass Hesse von den Nazis verboten wurde, versteht sich von selbst. Wer so klar gegen Staat, Autoritäten und Krieg argumentiert wie der Steppenwolf, ist natürlich ein gefürchteter Gegner totalitärer Systeme. Harry verzweifelt an der Tatsache, dass die Menschen um ihn herum nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit nahezu ungebremster Lust auf den nächsten fürchterlichen Weltkrieg zusteuern. Und auch wenn er einsieht, dass er mit seinen Zeitungsartikeln gegen den Krieg die nächste Mobilmachung nicht wird verhindern können, so steht er doch dafür ein, es wenigstens zu versuchen. Dieser Donquichotterie wird am Rande dieser Ausgabe mit „Trotzdem sollte man sich darüber Gedanken machen“ zugestimmt.

Im fulminanten Schlussakt des Buches, der in einem Magischen Theater angesiedelt ist, dass dem drogenberauschten Harry Haller übernatürliche Möglichkeiten eröffnet, durchlebt er eine Szene aus seiner Kindheit. Damals hatte er das erste Mal die Liebe gespürt, wenngleich diese noch eine keusche und kindliche war. Im Gegensatz zur längst vergangenen Realität hat Harry jedoch nun den Mut, Rosa anzusprechen, beichtet ihr seine überschäumende Liebe und genießt die Erwiderung seiner Gefühle . Nur Wenigen ist es vergönnt, diese Erfahrung auch im wirklichen Leben zu machen, doch soll es in der Tat auch solche Lieben geben, die 20 Jahre und mehr im Bereich des Unmöglichen und mit großer Verzögerung dann doch noch zum Blühen kommen. Am Rande steht an dieser Stelle steht im Buch in kleinen handschriftlichen Buchstaben: „Mir gefällt, wie geschickt Hesse die Fehlbarkeit der menschlichen Rasse darstellt. Denn schon zum zweiten Mal meint Harry, vorher noch nie so geliebt zu haben“. Was dann doch sehr versöhnlich stimmt und möglicherweise eine wichtige Grundaussage Hesses großartigen Werkes beinhaltet. Wäre es nicht unerträglich, wenn uns die Lasten unerwiderter, vergangener Lieben und die Zerrissenheit in Wolf und Mensch ein Leben lang quälten? Hesse zeigt uns, dass in dieser banalen Welt jeder, sogar der brummbärtige Steppenwolf, sein Glück finden kann, selbst wenn es nur Stunden oder Tage währt. Er muss es nur suchen – oder sich vom Glück finden lassen.

Samstag, 2. November 2013

Die Leinwand – Benjamin Stein

Ein wichtiger Unterschied zwischen einem Blockbuster und einem richtig guten Film ist, dass bei letzterem gern auch mal ein paar Fragen offen bleiben dürfen. Dass man noch Tage damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, mit Freunden diskutiert – sich einfach mitreißen lässt. 

Und genau dies zeichnet auch Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“ aus. Obwohl bei sorgfältigem Lesen und längerem Überlegen schon einige der Handlungsknoten aufgelöst werden können, bleiben einige Grundsätzlichkeiten doch völlig im Nebel der Unbestimmtheit verborgen. Aber das ist nicht die einzige Begründung dafür, dass es sich hierbei um einen ganz besonderen Roman handelt. Doch Halt! Der Plural ist hier angebracht, denn im Grunde genommen sind es zwei Bücher, die in einem gemeinsamen Einband daher kommen und verdreht bzw. gespiegelt gedruckt wurden. So kann man die beiden Geschichten, die anfangs kaum Bezug zueinander haben, auf verschiedene Weise lesen: Erst die aus der Sicht des Jan Wechsler, jüdisch-orthodoxer Schriftsteller und Verleger, der in München lebt und zu Beginn einen Koffer zugestellt bekommt, den er gar nicht vermisst, welcher aber mit einem in seiner eigenen Handschrift versehenen Adressanhänger versehen ist. Anschließend dann wendet man das Buch und liest die Lebensgeschichte des Amron Zichroni, ebenfalls orthodox lebender Jude, der die Gabe besitzt, die Gefühle und Erlebnisse seiner Mitmenschen am eigenen Leibe nachempfinden zu können, als wäre er selbst diese Person. Man kann aber auch nach jeweils einem Kapitel der einen wieder zur anderen Erzählung hinüber wechseln. Fragen entstehen ohnehin immer wieder, und erst gegen Ende, wenn beide Geschichten schließlich in der Mitte des Buches zusammenfinden, erschließen sich dem Leser die Gemeinsamkeiten und verbindenden Elemente. Doch wird, wie eingangs bereits erwähnt, längst nicht alles geklärt, was dem Werk indes keinen Abbruch tut.

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Neben der spannenden Handlung und der interessanten Idee zweier aufeinander zulaufender Geschichten gibt es aber noch weitere Argumente, diesen Roman als absolut lesenswert zu empfehlen: Legt der Leser beispielsweise erst einmal seine Voreingenommenheit zur Orthodoxie beiseite, kann „Die Leinwand“ ganz bestimmt dazu beitragen, die Gründe dafür, dass viele Menschen (nicht nur religiöse) heute noch nach den Vorschriften der Urväter leben, besser verstehen. Dazu muss man weder gläubig noch jüdisch sein, sondern lediglich eine gewisse Offenheit mitbringen. Dann kann es gelingen, den teilweise völlig unverständlichen oder mystischen Bräuchen, Sitten und Verboten ein wenig näher zu kommen, und man ahnt, dass gerade in dieser schnelllebigen und verrückten Zeit das Einhalten bestimmter Vorschriften Sicherheit und Halt geben kann. Nun kann man zu Religion stehen, wie man will, und Keinem ist es zu verübeln, wenn er sich ganz von ihr abwendet, in Zeiten, in denen sich Bischöfe (wieder) Paläste bauen und sogar buddhistische Mönche von ihrer Friedlichkeit abrücken und Jagd auf Andersgläubige machen. Doch ist es schon bezeichnend, wenn Amron Zichroni, der ja nun aufgrund der konservativen Auslegung seines Glaubens weiß Gott einige Schwierigkeiten zu bewältigen hat, die uns allen völlig fremd sind, den „Ewigen“ immer als Gütigen erlebt und verstanden hat, während er im konservativen Christentum mit Verboten, Strafen und Angst vor der Hölle konfrontiert wurde.

Wie in den meisten Romanen so ist natürlich auch in diesem ein gutes Stück Autobiographie enthalten. Die völlig unreligiöse Ostberliner Kindheit im „kleinen Land“ etwa, die Hinwendung zum Judentum, der Umzug nach München und vieles Andere verbinden die Leben Jan Wechslers und Benjamin Steins. Dies macht „Die Leinwand“ zu einem authentischen Erlebnis, das oft mit ungeahnten Sprüngen den Geist des Lesers verwirrt, aber auch fesselt. Und wie recht häufig in der Literatur spielen auch hier andere Bücher für die Geschichte(n) eine Schlüsselrolle, und so nutzt Stein sehr geschickt die Kniffe des „Roman im Roman“: Es sind dies die „Aschentage“, eine autobiographische Erzählung des Geigenbauers Minsky (welche im Übrigen auf einem wahren Literaturskandal beruht, den Binjamin Wilkomirski mit seiner angeblichen Auschwitz-Vergangenheit seinerzeit auslöste) und die „Maskeraden“. Letzteres ist Jan Wechslers heftige Antwort auf die „Aschentage“, in denen er Minsky der Lüge bezichtigt und letztendlich dessen Leben zerstört, wie er sich später selbst eingestehen muss.

Auch wenn die vielen hebräisch-jüdischen Fachausdrücke im Text mitunter etwas anstrengen, so sollte man sich ruhig die Zeit nehmen, während der Lektüre hin und wieder das in der Mitte des Buches aufgeführte Glossar zu nutzen. Das bereichert das Allgemeinwissen und trägt zum besseren Verständnis bei. Und nach der durchaus auch vergnüglichen Lektüre dieses Romans wird man sicher beim nächsten New-York-Besuch oder der kommenden Israelreise mit einem wohlwollenden und wissenden Blick auf die Schwarzhüte mit ihren Löckchen schauen. Was dann auch ganz im Sinne von Lessings weisem Nathan wäre.

Sonntag, 6. Oktober 2013

Abgang ist allerwärts - Reinhard Kuhnert



Nach einer mutigen Meinungsäußerung zur Biermann-Ausbürgerung sieht sich der hoffnungsvolle Theater- und Fernsehautor Elias ins Abseits befördert. Aber die Sache hat auch ihr Gutes: In der Idylle eines kleinen Dorf an der polnischen Grenze findet er den nötigen Abstand und Ruhe zum Arbeiten. Durch regelmäßige Besuche in der Dorfkneipe und sein Talent zum Zuhören verschafft »der Künstler« sich den Respekt der Männer, was so weit geht, dass er sogar der dörflichen Peepshow beiwohnen darf. Die Frauen zieht er durch Mitbringsel aus der besser versorgten Hauptstadt auf seine Seite. Doch weil sich Elias von den Oberen des Staates nicht erpressen lassen will, entschließt er sich, sein Paradies zu verlassen und in den Westen zu gehen.



Als er nach zwanzig Jahren besuchsweise zurückkehrt und davon erfährt, dass sich seine Freunde von damals an der Prämienjagd auf Flüchtlinge beteiligt haben, bekommt sein idyllisch verklärtes Bild des Dorfes Risse. Und als dann auch noch das frisch renovierte Schloss brennt, das einer »von drüben« gekauft hat, muss Elias resigniert feststellen: Schuld ist »im Grund das ganze Dorf«. Ohne jede Beschönigung und ohne in falsches Pathos abzugleiten gelingt es Kuhnert (der mit »Abgang ist allerwärts« auch einen autobiografischen Roman geschrieben hat), jenes Gefühl der Ohnmacht wieder lebendig werden zu lassen, das viele noch heute spüren, wenn sie an den real existierenden Alltag dieser Zeit zurückdenken. Der zunächst etwas seltsam anmutende Romantitel gewinnt erst mit der Ausreise des Protagonisten seine vollumfängliche Bedeutung: Der Abgang bezeichnet eben nicht nur das Verschwinden volkseigener Kalksäcke, alkoholbedingt dahingegangener Dorfbewohner oder die Ausreise ehemals engagierter Intellektueller, sondern vor allem auch das historische Endergebnis all dieser Einzelabgänge: den Abbruch des Massenexperimentes DDR.

Reinhard Kuhnert: Abgang ist allerwärts. Leipzig: Plöttner Verlag 2013. 225 S., 16,90 €


Donnerstag, 12. September 2013

Stadt der Diebe – David Benioff



Es geht wohl vielen so, denen in ihrer Jugend immer wieder der aufopferungsvolle Kampf der Sowjetsoldaten während des Großen Vaterländischen Krieges vorgehalten wurde: Wir mussten zu viele Geschichten von Edelmut und Entbehrung hören bzw. lesen, als dass wir sie noch als das wahrnehmen konnten was sie in der Tat waren, nämlich die Befreiung vom Faschismus, der die ganze Welt einzunehmen drohte. Durch die allgegenwärtige Heroisierung des Sowjetreiches und seiner Bewohner wurde bei den Schülern oft das Gegenteil des gewünschten Effektes erreicht, was ja ein allgemeines Problem der sozialistischen Erziehung war.



Und so tut es richtig gut, sich nun bei der Lektüre von „Stadt der Diebe“ mit einem Soldaten der Roten Armee zu solidarisieren und mit einem jugendlichen Feuerwehrmann zu sympathisieren, die eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Beiden droht die Exekution, welcher sie nur durch die Bewältigung einer schier unlösbaren Aufgabe entkommen können: Sie sollen innerhalb von vier Tagen im Auftrag eines hochrangigen Geheimdienstoffiziers 12 Eier für eine Hochzeitstorte organisieren. Und das im seit Monaten belagerten Stalingrad, in dem der Leim von Buchrücken gekratzt wird, um daraus Lebkuchen zu backen!

Die beiden, auf den ersten Blick sehr ungleichen Männer mögen sich anfangs überhaupt nicht, doch kommen sie sich im Verlauf der abenteuerlichen Unternehmung immer näher. Lew, der Sohn eines (denunzierten und verschwundenen) Schriftstellers, ist recht unsicher im Auftreten, unerfahren, und wird wegen seiner großen Nase immer gleich als Jude enttarnt. Kolja hingegen hat eine erfrischend große Klappe, die dem Leser und erst recht seinem Begleiter ob ihrer gefährlichen und stark provozierenden Äußerungen an so mancher Stelle das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er benimmt sich so gar nicht wie der uns jahrelang vorgegaukelte Übermensch sondern hat seine Truppe einfach deshalb verlassen, weil er seit vier Monaten keine Frau gehabt hatte: „Meine Nüsse haben gebimmelt wie zwei Kirchenglocken.“ Doch auf Desertion, auch wenn sie nur zeitlich begrenzt und aus wahrlich nachvollziehbaren Gründen erfolgte, steht im Krieg nun mal die Todesstrafe.

Während ihrer erfolglosen Versuche, in Piter (so nennen die Ortsansässigen gegen den ausdrücklichen Willen der Machthaber die eingekesselte Stadt) die Eier aufzutreiben, fallen sie fast einem kannibalistischen Paar zum Opfer und treiben in einer sehr anrührenden Szene das letzte Huhn der Stadt auf. Welches schließlich als Hahn enttarnt und nun ohne Prozess, wie es nun mal im Krieg so üblich ist, zum Tode verurteilt wird. Die erste richtige Suppe seit Monaten gibt den beiden die Kraft, aus der Stadt zu marschieren, wo sie schließlich auf eine Partisaneneinheit stoßen statt auf die gesuchte Kolchose. Der etwas naive Lew verliebt sich in die Anführerin der Gruppe, wohl wissend, dass sie ihn niemals auch nur eines Blickes würdigen wird. Doch während einer unbequemen Nacht in deutscher Gefangenschaft, die das Potential in sich trägt, die letzte für die Protagonisten zu sein, genießt er voller Sinnlichkeit und Verlangen, wie sich Vika im Schlaf an ihn lehnt. Es ist anrührend und erinnert an eigene Erfahrungen ähnlicher Art, wie sich Lew keinen Zentimeter bewegt, um dieses Gefühl so lange wie möglich auszukosten.

Zu Beginn ihres Abenteuers ist Lew richtiggehend wütend auf seinen älteren Begleiter. Unter anderem, weil dieser sich, während Lew sich hungrig, frierend und ängstlich mit mehreren unbekannten Männern ein enges Zimmer teilt, nebenan mit einer ehemaligen Freundin vergnügt („Zu hören, wie andere sich lieben, ist das einsamste Geräusch auf der Welt.“). Doch während der unendlichen und ermüdenden Märsche durch den Winter bekommt Lew nicht nur Unterricht in Liebesdingen und einen Stapel pornographische Spielkarten von Kolja. Auch vom Mut und Optimismus des Ältern springt eine kleine Portion auf ihn über. So wächst eine Freundschaft heran, die zwar auf ungleichmäßigen Lebenserfahrungen aber keinesfalls auf unterschiedlicher Intelligenz beruht. Die russische Literatur ist ein Thema, das beide stark geprägt hat und sie ständig beschäftig. Auch wenn die Männer hier oft sehr unterschiedlicher Auffassung sind, so wird die Liebe zur ihr zum Band einer echten Freundschaft. Als Kolja eines Abends radikal gegen Natascha Rostow aus Krieg und Frieden wettert, muss sich Lew schmunzelnd eingestehen: „Einen Mann, der eine Romanfigur mit solcher Inbrunst verachtete, musste man einfach mögen…!“

Es ist wahrlich eine Freude, den in unprätentiöser Sprache geschriebenen Roman des amerikanischen Schriftstellers David Benioff, der hier die Geschichte seines Großvaters zu erzählen vorgibt, zu lesen. Doch es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Stalingrad-Roman auch von brutalster Gewalt handelt, in der eine Erschießung eher wie eine Erlösung betrachtet und als Ende allen Leidens ersehnt wird. Doch schafft es diese Geschichte, dass man beim Lesen fast vergisst, dass der eigene Großvater möglicherweise einer der Belagerer und damit gehasster Feind des Erzählers war. Womit der Roman dann schließlich mit großer Verzögerung doch noch erreicht, was die sozialistische Schule nie vermochte: Unrecht als Unrecht zu identifizieren und die Schuld für das millionenfache Sterben allein den brutal wütenden Nazis zu zuschreiben. Womit „Stadt der Diebe“ als optimales Lehrbuch für alle Schüler, die heutigen, die ehemaligen und die zukünftigen, prädestiniert ist.

Dienstag, 3. September 2013

Das fremde Meer – Katharina Hartwell



Für die Beschreibung dieses Debütromans der jungen Autorin Katharina Hartwell müsste man erst ein Adjektiv erfinden, das die beiden Eigenschaften „düster“ und „hoffnungsvoll“ vereint, auch wenn diese doch komplett gegensätzlicher Natur sind.



Denn was den mutigen Leser, der nach der ersten – wahrlich apokalyptischen – Geschichte nicht aufgibt, im weiteren Verlauf des Buches erwartet, ist eben nicht nur zutiefst dunkel und so manches Mal frustrierend, sondern birgt auch immer einen Schimmer Zuversicht. Und das ist schon große literarische Kunst: Jeder hoffnungslosen Situation noch ein Ende abzutrotzen, das die Möglichkeit einer Rettung in sich birgt. Doch die wahre Größe von Hartwells Werk eröffnet sich erst mit der letzten, alles auflösenden Geschichte. Daher könnte man dem Leser auch raten, seine Lektüre mit dem Schlusskapitel zu beginnen, das allen vorangegangenen neun Geschichten auf einmal einen Sinn, einen Zusammenhang gibt. Diesen hat man zwar schon erahnt, gab es doch in einigen Kapiteln immer wieder Hinweise auf bereits erwähnte Personen, Städte, Gebäude und Begebenheiten, doch erst mit dem zu Tränen rührenden Schluss erschließt sich das große Ganze. Und wie die junge, am Leipziger Literaturinstitut studierende Autorin hier von Abschied und Trauer, von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung berichtet, das zeugt von einem Einfühlungsvermögen und einer Vorstellungskraft, die sonst nur lebenserfahrenen, weisen Menschen zugesprochen wird. Man spürt beim Lesen der Geschichte von Jan und Marie förmlich den Schmerz, den die Ich-Erzählerin empfindet, auch am eigenen Leib: „In den ersten beiden Wochen […] fühle ich mich wie aufgespießt; in meinem Körper steckt ein Pfahl, ich spüre ihn im Brustkorb, im Magen, er drängt die Organe ab.“

In jedem einzelnen der zehn Kapitel suchen und finden sich zwei Menschen, die einfach füreinander geschaffen sind, und man bewundert oft die Sicherheit, mit der diese spüren, dass dies eine unumstößliche Tatsache ist. Und deshalb riskieren sie auch immer sehr viel, manchmal alles: Denn für ein neues Leben genügt es nicht, sich nur die Haare zu schneiden und die Kleider zu wechseln. Will man wirklich etwas Grundsätzliches ändern, ist dies mit großen Schmerzen, ja mit Höllenqualen verbunden. So wie bei Miranda, der Prinzessin, die lieber ein Ritter sein wollte. In einer der schönsten Geschichten des ganzen Buches setzt sie für diesen Traum ihr Leben aufs Spiel.

Ein wenig befremdlich mag es für die Landratten unter den Lesern sein, dass das Meer mit seinen Geheimnissen und alten Legenden von Tauchern, die sich die Menschen zu sich in die Tiefe holen, so ganz anders beschrieben wird, als man es vom immer wieder herbeigesehnten Urlaub an der braven Ostsee kennt. Umso mehr muss man sich wundern, dass die Autorin nicht von einer einsamen Nordseeinsel, sondern aus Köln stammt, wo lediglich der Rhein träge und wellenlos dahingleitet. Denn mit welcher Sicherheit sie die dunklen Erzählungen der Alten in ihre Geschichten einwebt, das ließe vermuten, sie sei mit ihnen groß geworden und hätte sie beim Einschlafen selbst immer zu hören bekommen.

Obwohl Das fremde Meer letztendlich von der Liebe handelt, ist es kein leichter Stoff, der dem Leser hier zugemutet wird, aber es ist wahre Literatur, die es vermag, den Leser in ihren Bann zu ziehen und noch lange nach dem letzten Kapitel dessen Gedanken zu beschäftigen. Und das will bei der Masse von mittelmäßigen und schlechten Romanen, die ständig auf den Markt geworfen werden und der Fülle von Informationen und Eindrücken, die täglich verarbeitet werden wollen, schon etwas heißen! Da kann und sollte man gespannt sein, was diese junge Frau uns in Zukunft noch für Geschichten zu bieten hat, wenn sie ihr Studium erst einmal beendet haben wird. Den Namen Katharina Hartwell sollte man sich jedenfalls unbedingt einprägen!

















Montag, 26. August 2013

Erledigt in Paris und London - Geroge Orwell

Ein durch Zufall gefundenes Buch auf Reisen - www.bookcrossing.com machts möglich - wollte natürlich auch während einer Reise gelesen werden. Dass es sich um eine englische Originalausgabe handelte und der Rezensent zufällig in London war, passte da natürlich wunderbar und verlieh der Lektüre eine gewisse Portion Authentizität! Denn einerseits war es an sich schon aufregend, am Originalschauplatz in der Originalsprache zu lesen und Kings Cross, Elephant and Castle usw. mit eigenen Augen zu sehen, während diese bekannten Ort noch im Kopf umher schwirrten. Andererseits kam der Aufenthalt in England natürlich dem Verständnis zu Gute.



Noch authentischer wird das Geschriebene durch die Tatsache, dass Orwell quasi als früher Wallraff unterwegs war (wenn er auch im Gegensatz zu diesem auf vollkommen unfreiwillige Art unter sklavenähnlichen Bedingungen in Paris schuften und als Obdachloser in London unter den Ausgestossenen leben musste). Es ist nahe gehend, wie plastisch die Lebensumstände der Gestrauchelten geschildert werden, ob sie nun tagelang nichts Essbares auftreiben konnten, 17 Stunden für einen Hungerlohn schuften oder wochenlang die Zeit totschlagen mussten. Und es ist spannend, am Ende in einer kleinen Zusammenfassung des Autors Beobachtungen zur Entwicklung des Londoner Slangs zu lesen (mir zum Beispiel war es neu, dass dort schon Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Wort "fuck" so alltäglich war wie heute auf der ganzen Welt). Doch damit nicht genug. Der Autor widerlegt am Ende dann die allgemein gültigen Cliches über die "Nichtsnutze", die es in jeder Gesellschaft gibt und zeigt erste, vorsichtige Wege auf, auch diesen ein sinnvolles Leben zu ermöglichen. Denn er erkennt ganz deutlich, sicher auch aufgrund der eigenen Erfahrungen, dass nicht nur der Hunger einen Menschen in den Wahnsinn treiben kann. Auch die gezwungenermaßen für diese Männer vorgegebene sexuelle Enthaltsamkeit (kein Mann findet eine Frau, der es besser geht als ihm selber, denn diese sucht sich andere Männer!), sofern sie diese nicht durch eine Hinwendung zum eigenen Geschlecht zu umgehen in der Lage sind, stellt eine Qual dar, die keinem zugemutet werden sollte. Weder damals noch heute!

Doch die beeindruckendste Einsicht ist diese, dass Orwell ein wirklicher Freigeist war und nicht an festen Gedankenmustern festhielt: Wer "1984" oder "Die Farm der Tiere" gelesen hat und weiss, wie diese Bücher in der westlichen Welt gepuscht wurden, genau so wie sie im Osten verboten waren, könnte denken, dass Orwell ein Hasser des Sozialismus war. Doch war er nur ein Gegner der Diktatur, und zwar jeglicher Coleur. Denn dass er mit seinem hier vorliegenden Tatsachenbericht auch die derzeitige allmächtige kapitalistische Gesellschaft kritisiert, kann derjenige nachlesen, der das Buch nun findet (es wurde in Bournemouth in die Freiheit entlassen und nur 5 Minuten später von einer Passantin freudestrahelnd aufgelesen). Da darf man sich wohl nicht zu sehr daran stören, wie Orwell über die Juden herzieht, auch wenn es uns Deutschen doch hin und wieder das Blut in den Adern gefrieren lässt, welche Beschreibungen er für seine jüdischen Zeitgenossen bereit hält. Denn Eines sicher: Orwell hätte sich NACH Auschwitz zu solcherlei verallgemeinernden Herabwürdigungen nicht hinreissen lassen.

Montag, 5. August 2013

Herr Mozart wacht auf – Eva Baronsky



Da hat die Autorin mit ihrem ersten Roman aber wirklich gleich einen Volltreffer gelandet! Glückwunsch! kann man da nur sagen und jedem Verlag wünschen, solch eine Perle angeboten zu bekommen!


 Im ersten Kapitel, dem Präludium, wird die letzte Stunde des Wolfang Amadé Mozart beschrieben, welcher jedoch schon kurze Zeit nach dem Abtauchen in die tiefe Dunkelheit in einem weichen Bett des Jahres 2006 wieder erwacht. Da er keinerlei Schmerzen mehr verspürt, glaubt er sich im Himmel oder zumindest einer Zwischenwelt, schließlich hat er sein Requiem nicht beenden können. Weshalb er sich sofort ans Werk macht …

Was in den darauffolgenden Stunden, Tagen, Wochen und Monaten (gegliedert in Kapitel, deren Überschriften denen der einzelnen Abschnitte des Requiems entsprechen) mit dem armen Manne geschieht, ist wirklich sehr nahegehend, teilweise komisch und immer aufs Äußerste sympathisch beschrieben.

Allein schon die herrlich antiquierte Sprache des aus einer anderen Zeit kommenden Compositeur, dargeboten sowohl in Wort als auch in Schrift (in Form mehrerer Liebesbriefe) ist die Lektüre Wert! Dessen Worte, oft schelmisch oder auch scharfsinnig komponiert, befremden zwar die Menschen, denen er begegnet, erfreuen aber das Herz des Lesers immer wieder: „Mir scheint indes, dass man sich des Geldes noch immer nicht eher würdig erweist, als bis man das Unliebsamste und Mühevollste verrichtet, wozu man imstande ist. Die Zeiten haben sich wahrlich nicht geändert.“

Selbst wer der klassischen Musik bisher nicht viel abgewinnen konnte, wird sich durch diese Lektüre gewiss gemüßigt sehen, zumindest ein oder zwei bekannten Werken des begnadetsten Komponisten aller Zeiten seine Aufwartung zu machen, womit dieser wunderschöne Roman auch gleich noch eine wertvolle musikpädagogische Aufgabe erfüllt. Denn die Autorin versteht es fabelhaft, den Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt des Musikus mitzunehmen, wenn sie beschreibt, wie dieser beim Komponieren denkt, beim Spielen komponiert, beim Denken spielt, beim Lieben Musik fühlt und beim Musizieren liebt. Alles ist für diesen Mann in Töne und Melodien verpackt und kann durch Musik ausgedrückt werden. Als ihn eine französische Saxophonistin mit aufs Hotelzimmer nimmt und auf ihrem Instrument spielt, während er sie entkleidet starrt er „… sie an und fragte sich, ob er je wieder ein cis würde denken können, ohne dieses Bild vor sich zu sehen.“

Es ist in der Tat eine andere Welt, in der dieses Genie lebt, und auch wenn manch wichtige Charaktereigenschaft bei ihm zwangsläufig zu kurz kommt, was ihn sowohl in seinem ersten wie auch in dem hier beschriebenen zweiten Leben oft in die Bredouille bringt, spürt man schon so etwas wie Neid ob dieser ungeheuren Möglichkeiten, die unsereins nicht im Ansatz zur Verfügung stehen. Wie sagte noch Wolfgangs polnischer Mitbewohner zu Czerny, dem Kellner eines Wiener Jazz-Clubs (gut möglich, dass dem österreichischen Komponisten gleichen Namens, der im Todesjahr Mozarts geboren wurde, hiermit Tribut gezollt werden soll): „Aber immer wenn ich höre Musik von Wolfgang, denke ich, ist er kleine Bruder von liebe Gott.“

Vieles fällt Wolfgang Mustermann, so nennt sich Mozart, seit er diesen Namen auf einem Plakat sah, in der modernen Welt wirklich schwer. So genießt er zwar die Blicke auf die enganliegenden Jeans der Damen, weil er so deren Hinterteile ausgiebig bewundern kann, doch mit den kurzen Röcken hat er so seine Schwierigkeiten. Ebenso wie mit seinem One Night Stand, schließlich verliebt er sich Hals über Kopf in die Französin, und kann überhaupt nicht verstehen, dass sie am Morgen abreist, ohne wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen. Er leidet wie ein Hund und gesteht nach drei Tagen mit nichts als zwei Flaschen Wein allein im Liebesnest: „Musik, Czerny, das ist die einzige Liebe, die dich niemalen verlässt!“ Oh lieber Mozart, liebe Eva Baronsky, danke für diese lebensklugen, wenn auch so melancholischen, wahren Worte!

Gott sei Dank erfährt dann auch Mozart dieses Wunder, dass es immer wieder möglich macht, seine Blicke und Gefühle irgendwann wieder einem anderen Menschen zuwenden zu können und so verliebt er sich schließlich in die Frau, in deren Bett er am Anfang der Geschichte aufgewacht war (ohne sie damals bereits zu Gesicht bekommen zu haben). Auch wenn die Geschichte hier für kurze Zeit ein wenig an Fahrt verliert und an in dieser Art bereits schon mehrfach Gelesenes erinnert, so wünscht man ihm dann doch, dass er endlich mit der Frau, die er liebt wie seine Constanze (die er mit seinem Tod nahezu mittellos hinterließ), zusammenkommt. Doch dauert es eine ganze Weile, bis Anju sich endlich entschließen kann, trotz seiner diagnostizierten Amnesie, zu ihm zu stehen. Der Kummer, den er nach einem einzigen, ausgefüllten Liebestag empfindet, weil sie sich nach seinem Geständnis (ich bin Mozart!) von ihm abwendet, findet in Worten Ausdruck, die wirklich berühren: „Er entschied, die Beharrlichkeit der Wehmut auf die Probe zu stellen …“

Als schließlich der Musikprofessor Michaelis den offensichtlich Geisteskranken am Todestag Mozarts in der Psychiatrie besucht, glaubt dieser, der Erzengel Michael sei gekommen, um ihm zu befehlen, die fehlenden Teile des Requiem niederzuschreiben, weil er erst nach dessen Vollendung, auf die Gott und die ganze Welt dringlichst warten, die Erlösung von allem irdischen Leiden erfahren könne. Also macht er sich an die Arbeit und vollendet, was ihm 200 Jahre zuvor leider nicht vergönnt gewesen war.

Doch die Rezension eines solch bewegenden und liebevoll-musikalischen Romans mit derart düsteren Gedanken an Ende und Tod abzuschließen, verbietet sich, weshalb an dieser Stelle noch ein letztes Zitat gestattet sei, welches die Natur des Werkes anschaulich zum Ausdruck zu bringen vermag: „Den Bösendorfer (ein Klavier des bekannten Wiener Herstellers Bösendorf) berührte er wie eine vertraute Geliebte, die sich ihm schon einmal willig hingegeben hatte und nun mit weiteren Verheißungen lockte.“ Wohl an …!

Freitag, 31. Mai 2013

Nachtzug nach Lissabon – Pascal Mercier




Der in den letzten Wochen mit großem Erfolg in den deutschen Kinos gelaufene gleichnamige Film war zweifelsohne sehenswert. Denn  in diesem Fall kam das alte Klischee nicht gänzlich zur Geltung, wonach die Verfilmung eines Romans oft hinter dem Buch selbst zurücksteht(was in diesem Fall natürlich auch an den wunderschönen Schauspielern lag). Dennoch hat die Lektüre desselben mindestens einen großen Vorteil: Man kann die Briefe und Gedanken, die der Arzt Amadeu de Prado während der Diktatur in Portugal verfasste, in aller Ruhe mehrfach lesen, genießen und darüber in Stille sinnieren. Wie sollte das im, zugegebenermaßen, sehr schönen und ästhetischen Film möglich sein?



Und allein schon diese melancholischen, zutiefst ehrlichen und extrem selbstkritischen Gedanken dieses außergewöhnlichen Mannes machen das Buch so wertvoll. Wann hat jemals schon ein Mensch so schonungslos offen mit sich und der ihn umgebenden Welt abgerechnet ohne anklagend zu werden?

Aber auch der Rahmen der Handlung stimmt nachdenklich und zugleich hoffnungsvoll für das eigene Leben: Da wird ein den alten Sprachen verfallener, hochintelligenter und von seinen Schülern geliebter, jedoch von seiner Frau vor vielen Jahren ob seiner offensichtlichen Langweiligkeit verlassener Lehrer von einer Sekunde auf die andere aus seinem gewohnten Trott gerissen. Eine junge Portugiesin hält er vom todbringenden Sprung von einer hohen Brücke ab, diese begleitet ihn darauf hin bis ins Klassenzimmer, worauf Raimund Gregorius, von der portugiesischen Aussprache der Frau hingerissen, ohne Nachzudenken sein Leben von einem Augenblick auf den anderen ändert: Er verlässt mitten im Unterricht seine verdutzten Schüler und die gewohnte Schule, seinen Alltag und seine Welt. Durch Zufall fällt ihm in einer Buchhandlung das Buch eines portugiesischen Autors in die Hände und nun gibt es für ihn nur noch eines: Diesen Mann aufspüren. Also nimmt Gregorius den nächsten Zug über die französische in die portugiesische Hauptstadt, lernt auf der Fahrt einen gehetzten aber sehr sympathischen Lissabonner Geschäftsmann kennen und quartiert sich in einem kleinen Hotel in der Altstadt ein. Von einem unsichtbaren Sog getrieben, streunt er durch die Straßen der Stadt, lernt in kürzester Zeit mehr Menschen kennen (im wortwörtlichen Sinne) als in den vielen Jahren in Bern und kommt Amadeu mit jedem Tag, den er sich von seinem eigenen Leben entfernt, ein ganzes Stück näher. Immer tiefer taucht er in dessen Welt ein, auch wenn seine erste Begegnung mit dem Portugiesen, dem er sich auf seltsame Weise zutiefst verbunden fühlt, die mit dessen Grabstein ist. Doch zwei Schwestern und zwei ehemals sehr enge Freunde leben noch, ebenso wie zwei ehemalige Freundinnen, und diese Menschen erzählen Gregorius immer mehr Details über den geheimnisvollen Mann, dessen Familie und die Gründe, warum er in der Resistance sein Leben riskierte. Die Menschen fassen Vertrauen zu dem Schweizer Lehrer, kehren in ihre längst verdrängte Vergangenheit zurück und händigen ihm verschiedene Briefe aus, mit deren Hilfe sich Gregorius ein immer genaueres Bild über das Leben und den inneren Gemütszustand seines Bruders im Geiste verschaffen kann und die ihn durch deren teilweise philosophischen Betrachtungen begeistern. Genau wie den neugierigen, suchenden Leser.

Hier werden Fragen aufgeworfen, die uns alle hin und wieder quälen, wie z.B.: „Wie unterscheidet man, ob man eine Empfindung wichtig nehmen oder sie wie eine leichtgewichtige Laune behandeln soll?“

Und wer kennt nicht diesen so logisch daherkommenden Ratschlag, man solle:„Den Augenblick leben. Es klingt so richtig und auch so schön …, aber je mehr ich es mir wünsche, desto weniger verstehe ich, was es heißt.“ ?


Gregorius, auch von dessen Zweifeln und Gedanken kann man immer wieder lesen, wusste stets, und diese These hatte er immer vehement verteidigt, dass man Menschen ganz einfach in zwei Klassen einteilen kann, die Leser und die Nichtleser. Und dass es keinen größeren Unterschied zwischen Menschen gibt als eben diesen. Denn wer liest, trägt Fragen in sich und wenn er auch selten eine eindeutige Antwort bekommen mag, so trägt doch jedes Buch dazu bei, sich selbst besser verstehen zu lernen.

Die Reise in die fremde Stadt und in das Leben der dortigen Menschen führt auch in Gregorius zu selbstreflektierenden Betrachtungen seines eigenen Lebens, der Möglichkeiten, die ihm dieses bot und zu Überlegungen, wie dieses hätte verlaufen können, wenn bestimmte Entscheidungen anders gefällt worden wären. Auf der Suche nach Amadeu fragte er sich, ob es möglich sei: „…dass der beste Weg, sich seiner selbst zu vergewissern, darin bestand, einen anderen kennen und verstehen zu lernen?“

Einer der Höhepunkte des Buches ist ganz sicherlich die Abschlussrede des in einer religiösen Umgebung aufgewachsenen Amadeu am Ende seiner Schulzeit. Hier greift der Sohn eines offensichtlich von der Diktatur profitierenden Richters (später werden auch die Gründe hierfür näher beleuchtet – und wieder kann man lernen, dass es immer Gründe für unser Tun oder eben Nichttun gibt, auch wenn sie den Mitmenschen nicht bekannt sind) nicht nur das Regime an. Er, der Kathedralen und betende Menschen liebt, rechnet in einer Art und Weise mit Gott ab, die einen schwindlig machen kann. Der blutjunge Amadeu vergleicht die Allwissenheit Gottes, der jeden unserer Schritte und all unsere Gedanken kennt, mit der Brutalität der Folter, die den Inhaftierten ihren Rückzug nach innen durch Helligkeit und Schlafentzug vorenthält, was ihnen die Seele stiehlt: „Sie zerstört die Einsamkeit mit uns selbst, die wir brauchen, wie die Luft zum Atmen.“ Und er hinterfragt in seiner Rede die auch von Nichtchristen mitunter erhofften Versprechen der Ewigkeit, in dem er grandios schlussfolgert, dass diese schal und langweilig wäre, weil es vor dem Hintergrund eines ewigen Lebens keine Rolle spielte, was heute passiert: „Millionenfache Versäumnisse würden vor der Ewigkeit zu einem Nichts, und es hätte keinen Sinn, etwas zu bedauern, denn es bliebe immer Zeit, es nachzuholen. Nicht einmal in den Tag hineinleben könnten wir, denn dieses Glück zehrt vom Bewusstsein der verrinnenden Zeit, der Müßiggänger ist ein Abenteurer im Angesicht des Todes… Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an Zeitverschwendung?“


Obwohl Amadeu selbst aus berechtigtem Grund in ständiger Angst vor seinem bevorstehenden Tod lebte, reflektiert er über die Gründe, warum seine Patienten so entsetzt waren, wenn er diesen ankündigte, dass sie nicht mehr lange zu leben hätten und nimmt dem Leser gleichzeitig die Angst vor seinem eigenen Sterben: „Sie wollen nicht, dass es zu Ende sei, auch wenn sie das fehlende Leben nicht mehr vermissen können – und das wissen.“


Auch das Thema Einsamkeit teilen beide Männer. Und so liest Gregorius immer wieder die Aufzeichnungen des Portugiesen, der sich dieser Angelegenheit kurz vor seinem Tod, welcher ihn recht früh ereilte, intensiv widmete. Er meinte, dass wir Menschen unfrei wären und Sklaven unserer Umgebung, und er kämpfte mit Worten und Gedanken dagegen an: „Wenn uns die anderen Zuneigung, Achtung und Anerkennung entziehen: Warum können wir nicht einfach zu ihnen sagen: Ich brauche das alles nicht, ich genüge mir selbst?“

An anderer Stelle fragt er sich, „… ob wir nur aus Angst vor Einsamkeit so selten sagen, was wir denken? Weshalb sonst halten wir an all diesen zerrütteten Ehen, verlogenen Freundschaften …fest?“ Und dann erfasst Amadeu das Wesen der Einsamkeit einmal aus einem ganz anderen, positiven Blickwinkel, in dem er fragt, worin diese eigentlich bestehe: „In der Stille ausbleibender Vorhaltungen? In der fehlenden Notwendigkeit, mit angehaltenem Atem über das Minenfeld ehelicher Lügen … zu schleichen? In der Freiheit, beim Essen niemanden gegenüberzuhaben?“

Brillant ist dann die Schlussfolgerung, die das Potenzial in sich trägt, für viele dieser Ängstlichen ein Tor zu öffnen und damit eine Möglichkeit aufzeigt, die wohl kaum jemand schon so treffend formuliert hat:

„Und warum sind wir eigentlich so sicher, dass uns die anderen nicht beneideten, wenn sie sähen, wie groß unsere Freiheit geworden ist? Und dass sie nicht daraufhin unsere Gesellschaft suchten?“

„Nachtzug nach Lissabon“ ist kein Reiseführer der schönen alten Stadt an der Mündung des Tejo – aber das Buch macht Lust auf eine Reise dorthin. Es ist ein Mut machendes Buch, auch wenn viele der Gedanken ausgesprochen düster daherkommen. Denn zugleich vermag es uns Ängste zu nehmen (vor der Einsamkeit, vor dem Tod, vor der Fremde) und es regt unsere Gedanken an, es lädt ein, auch unser Leben zu überdenken und zeigt, dass es niemals zu spät ist, etwas zu verändern, spannende Menschen und neue Freunde kennenzulernen. Und es bietet, im Gegensatz zum Film, kein Happy End, auch wenn man es sich als Leser wirklich ersehnt. Was allein schon ein gewichtiger Grund für dessen Lektüre ist!