Mittwoch, 25. Juli 2012

Winter im Sommer – Frühling im Herbst – Joachim Gauck

Auch wenn politische Literatur nicht zu meinen Favoriten gehört – immer mehr eigne ich mir die Meinung an, dass mir Politiker und das, was sie tun, gestohlen bleiben kann – so stufe ich diese Autobiografie unseres Bundespräsidenten als wirklich lesenswert ein. Authentisch ist sie insbesondere deshalb, weil sie zwei Jahre vor seiner 2012 erfolgten Wahl zum Staatsoberhaupt fertiggestellt wurde und daher keinerlei Rücksichten auf das Amt nehmen musste.

Idyllisch war zwar der Ort, an dem Gauck aufwuchs (ein kleines Dorf auf der Halbinsel Darß) aber nicht die Zeit, in der er dies tat. Geboren im Kriegswinter 1940 gehört er dem gleichen Jahrgang wie mein Vater an, hatte aber am Ende des Krieges nicht so viel Glück mit seinem Erzeuger wie meiner mit seinem. Mein Großvater hatte es nämlich irgendwie geschafft, in den letzten Kriegstagen ganz nah seiner Heimatstadt zu desertieren, wodurch ihm die Kriegsgefangenschaft erspart blieb. Nicht so der alte Gauck, der für ein Jahr unter englischem Kommando ehemalige polnische Kriegsgefangene per Schiff zurück in ihre Heimat schaffen musste. Nicht das schlimmste Los, wie er nur einige Jahre später erfahren musste, als er 1951 völlig grundlos verhaftet und in ein russischen Gulag gebracht worden war. Dieses Ereignis und die dadurch geprägte Kindheit als „Sohn eines Verräters“, obwohl der Vater überhaupt keinen Verrat begangen hatte und ihm nichts wirklich Staatsfeindliches zur Last gelegt werden konnte, sind sicherlich die  wichtigsten Ursachen für Joachim Gaucks spätere Einstellung gegen die sozialistische DDR. Wer einem Kind grundlos den Vater nimmt, kann nicht am Wohle der Familie und an einer besseren Welt interessiert sein. Gaucks Eltern waren schon Mitläufer im Nazi-Deutschland und begeistert von den Ideen des Führers, was nicht im Mindesten verleugnet oder ausgespart wird, aber es wird glaubhaft klar gemacht, dass sie während des Nationalsozialismus weder Entscheidungsträger waren noch irgendwelche andere als die Kollektivschuld auf sich geladen haben.

Zwei Jahre schuftet Vater Gauck im sibirischen Gulag und erfährt dort, während er die gefrorene Scheiße unter dem Donnerbalken entfernt, vom Tode Stalins. Als er dann endlich wieder nach Hause kommt, bringt aber natürlicherweise seinen Groll gegen diese Form des Sozialismus/Kommunismus mit und pflanzt damit sicherlich das Pflänzchen, dass dem Sohn später zum mutigen Bürgerrechtler machen wird. Eindrücklich erzählt Gauck von der Schizophrenie des DDR-Alltags und den zwei Gesichtern, die fast jeder Systemkritische mit sich herum trug. Das, welches man in der Schule oder im Betrieb zur Schau trug und das „wahre“, das sich nur im privaten Raum zeigen konnte. Und er erzählt anhand mehrerer Beispiele von den vielfältigen Problemen, die man bekam, wenn man genau das nicht tat und sich der Anpassung verweigerte. Auch der junge Gauck war, so erzählt er mehrfach, ein recht aufmüpfiger Schüler und ziemlich frecher Jüngling, der es seinen Lehrern sicher nicht immer einfach machte (was er letztendlich mit ihnen gemein hatte). Auch ich habe während meiner sozialistischen Schulzeit an mir selbst und in meinem Umfeld festgestellt, dass der staatliche verordnete Antifaschismus uns nicht erreicht und bei Manchem vielleicht sogar das Gegenteil hervorgerufen hat. Wir wurden, so schreibt Gauck, immun gegen die Aussagen von Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“ oder gegen den Märtyrertod von Ernst Thälmann. „Wenn Falsche das Richtige sagen, wird leicht auch das Richtige falsch“.

Vor dem Mauerbau bereiste Gauck bereits den Westen und fuhr sogar bis nach Paris. Aber immer wieder kehrte er gern nach Hause zurück. „Meine Heimat liebte ich seriös, meinen Westen wie eine Geliebte“, was mit Sicherheit nicht abwertend gemeint ist. Wenn er seinen mittlerweile in einer Westberliner WG lebenden Cousin besuchte, ging Gauck oft mit Freunden dort ins Kino. Niedlich, wie er schreibt, dass viele Ostdeutsche zur Legitimation ihren FDJ- oder Pionierausweis vorlegten, weil sie dadurch die Eintrittskarte mit Ostgeld erwerben konnten.

Nach dem Mauerbau „…nistete sich die Sehnsucht in unsere Herzen ein. Der Westen war wie eine Frau, die man als Siebzehnjähriger auf den Sockel hebt und anbetet. Da können Jahrzehnte und Jahrhunderte vergehen, ihre Schönheit bleibt erhalten.

So wie ich noch heute regelmäßig von Neuseeland träume, träumte Gauck oft vom Westen, was bei ihm immer ein Gefühl der „totalen Erleichterung und Entlastung“  hervorrief. Wie es ihm wohl ging, wenn er dann am Morgen nach solch einem Traum in seiner DDR-Gefängnis aufwachte? Ich habe heute (theoretisch zumindest) die Möglichkeit, mich in den nächsten Flieger nach Auckland zu setzen, für ihn wie für die anderen 17 Millionen DDR-Bürger war es undenkbar, seine Freund im nahegelegenen und doch so unendlich weit entfernten Westberlin zu besuchen. Natürlich, und das gibt Gauck auch unumwunden zu, wurde in diesen Träume der Westen total verklärt, was bei Zusammenkünften mit dort Lebenden häufig zu Kontroversen führte, „… in denen wir DDR-Bürger den Westlern den Westen erklärten und sie uns den Sozialismus“.

 Warum Joachim Gauck sich als junger Erwachsener entschließt, Theologie zu studieren, bleibt zwar ein wenig im Ungewissen, dass es anscheinend aber die richtige Entscheidung für ihn war, kann man im Folgenden nachlesen. Die erste Pfarrstelle in einem kleinen mecklenburgischen Dorf ist für die Familie Gauck mit ihren 3 kleinen Kindern ein richtiges Paradies, zumindest im Sommer: Ein kleines Pfarrhaus mit einem großen Garten in friedlicher Umgebung, in der die Kinder tun und lassen konnten, was sie wollten und in dem Joachims Frau Hansi fast alles anbaute, was die Familie zum Leben brauchte. Manch ein Besucher war zwar über die primitiven Lebensbedingungen entsetzt, insbesondere wenn er im Winter zu den Gaucks kam. Doch scheint es, zumindest in den Erinnerungen des in die Jahre gekommenen Familienvaters, ein schönes, wenn auch bescheidenes Leben gewesen zu sein. Dass der Herr Pfarrer den Scheißeimer der ganzen Familie selbst im Garten entsorgen musste, hat ihn scheinbar kaum angefochten. Irgendwie finde ich es eine sehr amüsante Vorstellung, dass unser Herr Bundespräsident vor noch gar nicht einmal so langer Zeit solch niedrigen Tätigkeiten nachgegangen ist. Wenn das die Adligen, Botschafter und Staatsoberhäupter dieser Welt wüssten, die Gauck heutzutage in seiner Residenz bewirtet und die ihre verwöhnten Ärsche im pikfeinen Schlossklo entleeren…!

Keiner dieser illustren Gäste kann sich wahrscheinlich auch vorstellen, wie das Leben der Gaucks dann im Rostocker Neubaugebiet Evershagen aussah: Das Wohnzimmer der Plattenbauwohnung war gleichzeitig das Arbeitszimmer des Pfarrers, der Weg zu ihr war nicht mit roten Teppichen ausgelegt sondern schlammig und dreckig wie ein Trampelpfad im Dschungel während der Regenzeit, und eine Kirche zum Predigen gab es auch nicht. Welch schwere Umstellung für die natur-verwöhnte Familie! Gauck lief hier von Wohnung zu Wohnung, um zugezogene Lutheraner zu finden und für die Idee einer eigenen Gemeinde zu begeistern, wobei er streng auf seine Wortwahl achten musste, um nicht mit den zahlreichen Parteimitgliedern anzuecken oder sich strafbar zu machen. Doch schaffte er es mit der Zeit in dieser kirchenfeindlichen Umgebung, einige Leute um sich zu scharen und baute die für so viele Jugendliche zur wichtigsgten Anlaufstelle werdende Junge Gemeinde auf. Dort scheint er außerordentlich beliebt gewesen zu sein, so dass er zum Stadtjugendpfarrer aufstieg.

In dieser Funktion kam Gauck natürlich mit vielen Jugendlichen in engen Kontakt, die Probleme mit dem Staat hatten und unterstützte diese mit vielerlei Tipps und praktischer Lebenshilfe. Seine Kinder, die bis auf die kleine Nachzüglerin nach und nach alle in den Westen wollten, nahmen es ihm übel, dass er sich für verhaftete Oppositionelle beim damaligen Bundespräsidenten Weizäcker einsetzte, damit diese von der Bundesrepublik aus dem Gefängnis freigekauft würden, während er seine Söhne nicht in ihren Bemühungen, das Land zu verlassen, unterstützte. Was wieder einen beeindruckenden Charakterzug Gaucks offenbart, nämlich die Selbstlosigkeit, sich selbst und seiner Familie durch seine Beziehungen nicht besser zu stellen als diejenigen, die dieser Hilfe noch mehr bedürfen. Wer kann das schon? Dennoch reisten die beiden Jungs Mitte der 80er Jahre in den Westen aus und auch die große Tochter verließ schließlich wegen der Liebe das Land.

Sehr schön aufbereitet lesen wir von Zusammenkünften westlicher und östlicher Pastorenkollegen. Mit einem Abstand von über 20 Jahren kann man heute dem bayerischen Pastor fast sogar ein wenig Recht geben, der sich echauffiert, wenn die Ossis sich über Honecker beklagen, schließlich hätten sie den Franz-Joseph Strauß, einen richtig korrupten Politiker. Dagegen sei der ostdeutsche Regierungschef doch wirklich harmlos. Was zwar nicht ganz stimmt aber dennoch eine niedliche Darstellung der unterschiedlichen Blickwinkel aufzeigt. Und obwohl Gauck während solcher Diskussionen oft eine Entfremdung zwischen den Kollegen feststellte, erklärt er damit auch sehr eindrücklich das Paradoxon, was auch mich in der Wendezeit und darüber hinaus bewegt hat, nämlich dass breite Kreise (in der ostdeutschen evangelischen Kirche) links wurden, obwohl sie mit der angeblich linken Regierung ihres Landes im Clinch lagen. Warum sollten wir gegen die sozialistische Idee sein, wenn ein zukünftiger, besserer Sozialismus die Menschen- und Bürgerrechte gewähren und wirkliche Freiheit für jeden Bürger ermöglichen würde? Schließlich beinhaltet das marxistische Zukunftsideal  auch Züge eines Glaubens und ist der christlichen Lehre mit seiner Idee von  Solidarität und Miteinander oft näher als der egoistische, unsoziale Kapitalismus. Das Sympathische und Wahrhaftige an Gauck ist, dass er selbstkritisch eingesteht, der intellektuellen Verführung einer radikalen Kritik am Kapitalismus und dem Glauben an eine positive Zukunftsvision auf dem Weg zur vollendeten (sozialistisch-kommunistischen) Gesellschaft erlegen zu sein.

Dass er im Jahr 2012 mit dieser abschätzigen Beurteilung des real existierenden Kapitalismus und der Hoffnung auf ein kommunistisches Deutschland kaum Bundespräsident hätte werden können, versteht sich von selbst. Sehr glaubhaft und für mich auch irgendwie versöhnlich begründet Gauck, wieso er schon während der Wendezeit, die er mit stimmigen Erklärungen als Revolution definiert und an der er in seinem Einflussbereich maßgeblich beteiligt war (auch wenn die Mecklenburger mit ihren späten Demonstrationen ein wenig hinterherhinkten, was aber ganz einfach dem Charakter der dort lebenden Menschen geschuldet ist), schnell auf die Seiten derer wechselte, die eine Verbesserung der existierenden Gesellschaftsordnung als unrealistisch einschätzte. Stattdessen wusste Gauck sehr frühzeitig, dass nur durch eine Vereinigung mit der Bundesrepublik die Massenabwanderung aus Ostdeutschland zu beenden sei und die Verbesserung der Lebensverhältnisse möglich wäre. Wie wütend war ich selbst, als kurz nach dem Einläuten des friedlichen Umbruchs auf den Leipziger Montagsdemonstrationen die Deutschlandfahne auftauchte und die Wiedervereinigung gefordert wurde! Im Nachhinein und mit den Ausführungen des ehemaligen Bürgerrechtlers Gauck nun vertraut, muss auch ich zugestehen, dass die schnelle Vereinigung damals wohl der einzig gangbare Weg gewesen ist. Was natürlich nicht heißt, dass man die hierbei gemachten Fehler nicht geißeln, die dadurch offenkundig gewordene plumpe Annäherung vieler Ostdeutscher an nationalistische Ideen nicht ablehnen und bekämpfen sollte! Gauck überzeugte viele Mitstreiter im Neuen Forum davon, dass man nicht Lehrer des Volkes sei sondern in erster Linie Teil des Volkes (welches nun einmal in der Mehrheit die Vereinigung herbei sehnte). Er spricht von einem Wachstumsprozess, den die Bürgerrechtler begleiten und mitbestimmend prägen sollten, wobei „beide Teile der Nation dabei je eigene Teile zu erlernen und zu verlernen“ haben werden. Was bis heute ein Großteil der Deutschen nicht begriffen hat.  Über das Neue Forum kam Gauck zum Runden Tisch, obwohl für ihn der nun von Seiten des Staates gewünschte Dialog überflüssig, weil viel zu spät gekommen war. Über den Runden Tisch und die erste freie Wahl in Ostdeutschland seit 1933 wurde Gauck als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen in die letzte DDR-Volkskammer und wurde dort dann zum Vorsitzenden des Ausschusses für die Auflösung der Stasi gewählt. Im Nachhinein ist es sicher eine logische Konsequenz, dass Gauck dann auch die Leitung der mit der Wiedervereinigung erschaffenen Behörde zur Stasiaufarbeitung übertragen wurde. Damals war es für ihn ein enorme Wertschätzung und gleichzeitig eine extrem herausfordernde Arbeit. Spannend ist es zu lesen, was Gauck und seine Mitarbeiter während der jahrelangen Arbeit alles aufdeckten und herausfanden. Unglaublich z.B., wie viele Pastoren und sogar Mitglieder der Kirchenleitung als Inoffizielle Mitarbeiter (IM’s) die Kirche und deren Mitglieder ausspionierten. Ich dachte immer, es gab einige Wenige, die sich hatten verführen lassen, nach der Lektüre von Gaucks Erinnerungen weiß ich nun, dass es eine nicht unbeträchtliche Anzahl war. Dass tatsächlich so viele Pastoren, Superintendenten und sogar Bischöfe auf den Gehaltslisten der Stasi standen hatte ich niemals für möglich gehalten. Sehr interessant sind dann auch Gaucks detaillierte Ausführungen zum Thema Stasi-Aufarbeitung und über die Tatsache, wie schwer es war, diese überhaupt durchzusetzen. Ich wusste nicht, dass fast die gesamte westdeutsche Politik-Elite einschließlich Helmut Kohl, die Meinung vertrat, dass es nicht notwendig bzw. sogar gefährlich sei, den Ausspionierten den Zugang zu ihren Akten zu ermöglichen. Doch führt Gauck anhand vieler Einzelbeispiele, darunter auch durch Betrachtungen der betreffenden Regelungen in anderen osteuropäischen Staaten, auf, warum das von der letzten DDR-Volkskammer so vehement geforderte und schließlich ein Jahr nach der Wiedervereinigung verabschiedete Stasi-Unterlagengesetz so wichtig und gut ist. Doch solange dieses Gesetz noch nicht verabschiedet und nur eine Übergangsregelung aus dem Einheitsvertrag gültig war, setzte sich Gauck mit eindrücklicher Konsequenz  für die erkämpfte Demokratie und deren Regeln ein. So verurteilte er beispielsweise die Besetzung der Stasi-Zentrale durch Bürgerrechtler im September 1990 sowie die (noch) nicht durch Gesetze gedeckte Aufdeckung der Spitzeltätigkeit des letzten DDR-Ministerpräsidenten De Maiziere, in dem er die uneinsichtigen Verantwortlichen von ihren Aufgaben in der Stasi-Unterlagenbehörde entband. Man kann durchaus Sympathie mit Bärbel Bohley und ihren Mitbesetzern empfinden und auch deren Einstellung, dass die Radikalität beibehalten werden müsse, teilen – mir liegt diese Meinung viel näher als Gaucks unbedingte Gesetzeskonformität. Aber eben weil er sich so vehement für die Einhaltung der nun geltenden Gesetze einsetzte und sich dafür mit seinen Bürgerrechtskollegen anlegte, hat er sich letztendlich als Bundespräsident qualifiziert. Auf das historisch gesehen wohl einmalige Stasiunterlagengesetz und die durch die Behörde (bis heute) geleistete Arbeit ist Gauck zu Recht stolz. Dass der Widerstand gegen diese Aufarbeitung aus unterschiedlichen Ecken der Gesellschaft kam, kann er nachvollziehbar erklären, wobei er die Argumente der Gegner gekonnt auseinander- und unter die Lupe nimmt. Immerhin, so lesen wir, hatte die bei uns praktizierte konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit den Vorteil gegenüber der nach dem Krieg durchgeführten Entnazifizierung bzw. der in Tschechien ausgeübten Entkommunisierung, dass nicht alle IM oder Parteimitglieder aus öffentlichen Funktionen entfernt werden mussten. Je nach Schwere der Schuld durften Einige durchaus weiter im Schuldienst verbleiben oder, wie bei einem glaubhaft einsichtigen ehemaligen Stasioffizier, sogar in einer wichtigen Position innerhalb der Stasibehörde beschäftigt werden. Dieser differenzierte Umgang mit den Tätern hat sicherlich ganz entschieden zu einer Versöhnung im Land beigetragen, eben weil das Thema weder totgeschwiegen noch polemisch aufbereitet wurde. So kann es Gauck, seinen Mitarbeitern und den Mitkämpfern für die geordnete Offenlegung der Stasiunterlagen das Verdienst zugesprochen werden, dass es keinerlei Fälle von Selbstjustiz gegeben hat. Natürlich fordert Gauck immer wieder von den ehemaligen Spitzeln, dass sie sich klar zu ihren Taten bekennen, ihre Schuld eingestehen und um Vergebung bitten. Wo ihm dies widerfahren ist, konnte Gauck dann spontan einen ehemaligen Stasi-Zuträger umarmen oder durch den Plenarsaal auf einen anderen Spitzel zugehen um ihm die Hand zu reichen („nicht wegen damals, aber wegen jetzt“) . Dies zeugt von moralischer Überlegenheit aber auch von großer menschlicher Stärke.

Gaucks Bericht über ein von ihm selbst initiiertes Treffen mit einem Stasi-Hauptmann (selbstverständlich war hierbei ein Pastoren-Kollege anwesend, um jedweden konspirativen Eindruck von vornherein zu vermeiden), liest sich heutzutage süffisant. Wie er sich in diesen finsteren Zeiten mit dem Stasi-Typen anlegte, ringt mir indes größten Respekt ab. Gauck wirft dem MfS vor, „…dass der Staat stalinistische Züge aufweise, keine Kritik vertrage und die Freiheit des Einzelnen unterdrücke“ und beschwert sich darüber, dass selbst Minderjährige für Spitzeldienste angeworben werden. Dass er hiermit die Leute von Staat und Partei sicherlich nicht zum Umdenken bewegen könne, war ihm dabei natürlich klar. Jedoch, dieses Gespräch musste einfach sein, wie Gauck mit seiner einnehmenden Art resümiert: „Das Ganze war nichts als Selbstbefriedigung, absolut sinnlos, aber der ganze Groll und die tiefe Empörung mussten einmal aus mir heraus.“

Die heutzutage oft anzutreffende Ostalgie mit ihrem Credo: „Es war doch nicht alles schlecht am Sozialismus“  setzt Gauck gekonnt in Beziehung mit der von unserer Großelterngeneration oft hervorgebrachten Entschuldigung: „Es war doch nicht alles schlecht beim Führer“ und begründet beide Aussagen mit der tiefgreifenden Angst vor kritischer Selbstreflexion. Er vergleicht die gesellschaftliche Aufarbeitung der schweren Vergangenheit mit der individuellen Psychotherapie. In beiden Fällen gehe es nicht ohne Schmerzen ab, und so entlarvt er die durchaus nachvollziehbaren Gründe für die Nostalgie mit dem klugen Satz: „Ganz ohne politischen Missbrauch ist sie äußerst beliebt, aber es ist nicht die Dummheit, die die Menschen an ihr lieben, sondern es ist die Freiheit von Schmerz.“

Interessant ist auch die Einstellung des Pfarrers Gauck gegenüber der  „Kirche von unten“, also den Christenmenschen, die sich von der offiziellen Kirche nicht wirklich verstanden und vertreten gefühlt und die während der Kirchentage eigene Veranstaltungen organisiert haben. So hat er diese oft sehr engagierten Leute, die um etwas zu bewegen manchmal mehr riskiert haben als den Kirchenoberen recht war, integriert und den Skeptikern in seiner Landeskirche, die um das gute Verhältnis zum Staat besorgt waren, zugerufen: „Die etablierte Christen- und Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. Schließlich wächst Hoffnung nicht aus Haben sondern aus Sehnsucht nach Sein, sie riskiert etwas und ist umgeben von Veränderung statt von Idylle.“

Sehr sympathisch, nachvollziehbar und ehrlich ist es, wenn Gauck von seinen Zweifeln im Glauben an Gott berichtet. Wie bringt man einer Braut bei, dass Ihr Verlobter am Tag der Hochzeit mit dem Motorrad tödlich verunglückte? Wie kann man in solchen Situationen, wie kann man nach Auschwitz überhaupt noch an Gottes Güte glauben? Gauck blieb in solchen schweren Situationen vor den Trauernden stehen mit den gleichen Fragen wie sie und ohne bessere Antworten, überfordert durch die Tragik der Ereignisse. Seine hier dargestellte Logik sollten sich alle Zweifelnden zu Eigen machen: Die Welt erklärt sich leichter mit Gott als ohne ihn. Die in diesem Zusammenhang vorgebrachte Definition von Glaube als neben-vernünftig spricht mich sehr an, weil sie den Glauben nicht als unvernünftig herabwürdigt (kein vernünftiger Mensch könnte demnach an Gott glauben) sondern aufzeigt, dass wir neben unseren vernünftigen Gedanken und Theorien über das Leben und die Welt dennoch an Gottes guten Plan glauben dürfen.

Zu guter Letzt sind Gaucks Erinnerungen auch an Plädoyer für die Freiheit und, hier spricht er mir aus dem Herzen, für die Freude an ihr. Trotz aller „alltäglichen Unzulänglichkeiten, Mängel und Fehler der Freiheit“ , die wir in der heutigen, nicht gerade perfekten Gesellschaft erleben und die uns stören, sollten wir sie frohen Mutes nutzen und uns der Tatsache bewusst sein, dass das Leben in einem demokratischen Staat etwas Besonderes ist, auch wenn uns dies nicht immer so bewusst ist. Er vergleicht diese Situation vortrefflich mit den Berichten der aus Leipzig, Borna und Bitterfeld nach Rügen gereisten DDR-Bürger, die den Inselbewohnern erst vor Augen führen mussten, welch außergewöhnliche Luft diese atmeten. Gauck erklärt, warum er auch heute noch gern die mitleidigen Blicke mancher Westdeutscher aushält, die ihn ob seiner beständigen Freude an der westlichen Freiheit für naiv halten: „Doch ich wollte und will mir jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten, die wohl nur versteht, wer sich lange und intensiv nach ihr gesehnt hat und in ihr magnetisches Feld geraten ist.“

Und dennoch, auch einen Joachim Gauck befällt noch manchmal die Traurigkeit über den Verlust dieses intensiven Erlebens während der Zeit der Diktatur, das auf großer Freude, viel Wärme und Nähe begründet war, wie es dies wohl heute kaum noch gibt: „So holt sie mich jetzt manchmal ein, die Sehnsucht nach der Sehnsucht, die ihr Ziel verlor, als die erträumte Freiheit Wirklichkeit wurde“. Ob auch ein Bundespräsident Joachim Gauck in seinem schicken Schloss noch ab und an von dieser Sehnsucht befallen wird? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem so ist. Und deshalb gefällt mir dieser Mann auch und gerade als Präsident dieses Landes so gut! Ebenso gut wie seine Erinnerungen.

Samstag, 21. Juli 2012

Rituale – Cees Nooteboom


Es gibt Tage, da ist der Rezensent aufrichtig froh darüber, mit dieser Tätigkeit nicht sein Geld verdienen zu müssen. Er hat schließlich schon genug Zeit verschwendet, als er diesen laut Reich-Ranicki „poetischen Roman, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht“ in den vergangenen Tagen las. Immer hoffend, dass der große Marcel doch noch Recht behalten würde. Mit Verlaub, aber entweder hat der Verlag dieses Zitat auf das falsche Buch gedruckt oder aber dem alten Mann sind zwei kurze, flüchtige Begegnungen zwischen Mann und Frau mittlerweile Grund genug für diese irreführende Behauptung. Lasst Euch dies erneut zur Warnung gedeihen, NIEMALS ein Buch zu kaufen, weil der Klappentext Spannendes, Lustiges oder Erotisches suggeriert und Euch zum Kauf verführen will. Wer wirklich einen Roman lesen möchte, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht, muss sich noch ein wenig gedulden, bis der Rezensent die Seiten gewechselt und zu Papier gebracht hat, was derzeit noch in seinem Kopf am Entstehen ist.

Doch zurück zu „Rituale“. Ein recht sympathischer, ziemlich fauler Holländer (Eigentlich wusste er mit Sicherheit, dass er nicht nur niemals etwas werden wollte, sondern auch niemals etwas werden würde“) mit namibischen Wurzeln schleicht hier durch die 60er und 70er Jahre. Dabei begegnet er einer skurrilen Tante, die ihn mit einem noch seltsameren Einzelgänger bekannt macht, der schelmischen Hausangestellten Petra (kurzes Techtelmächtel) und schließlich noch dem seinem Vater verblüffend ähnlichen Sohn des Einzelgängers, der der japanischen Teetrink-Kultur so verfallen ist, dass er es einigen alten Zen Meistern gleichtut und sich nach dem rituellen gemeinsamen Teetrinken das Leben nimmt. Wer sich für alte Teeschalen interessiert und die damit verbundenen Rituale, mag dieses Buch also gern zur Hand nehmen und die letzten Kapitel lesen. Allen anderen rufe ich zu: Last die Hände davon!

Gut, einige schöne Sätze hat Neeteboom schon hervorgebracht, doch wären diese in einem spannenderen, interessanteren Buch viel besser zur Geltung gekommen:
 „In diesem Jahr, von dem hier die Rede ist, brach eines Tages plötzlich der November an“. Wie schön! Diese Beobachtung wäre mir so niemals von den Fingern gegangen.

Auch „In den Schaufenstern sah er den flüchtigen Widerschein dessen, was sich wie Glück ausnahm. Älterer Herr auf Damenrad, hinten auf dem Gepäckträger Mädchen in Jeans und mit weißen Turnschuhen“. lässt das Potential erahnen, von dem Reich-Ranicki schwärmt. Und wenn der Protagonist von den “atemberaubend kleinen slips, weiß und hellblau“ des ihn verführenden Mädchens begeistert ist, kann man als Mann im gleichen Alter schon ein wenig feuchte Augen bekommen.

Ich glaube schon, dass Cees Noteboom ein großer Schriftsteller ist bzw. werden wird, das beweisen einige hervorragende Gedanken, nur fügen diese sich hier leider nicht zu einer irgendwie lesenswerten Story zusammen: „Mein Gott, was gibt es doch für mannigfaltige Verfahrensweisen zur Behandlung von Tierleichen! Geräuchert, gekocht, gebraten, geliert, blutrot, schwarzweiß gepökelt, marmoriert, gepresst, zermahlen und zerschnitten war der Tod… zur Schau gestellt“.

Oder, um dann doch noch mal zu meinem und Reich-Ranickis Lieblingsthema zurück zu kommen: „Wenn die Welt ein Rätsel war, dann waren die Frauen die Kraft, die dieses pulsierende Rätsel in Gang hielt, sie, nur sie allein hatten Zutritt zu diesem Rätsel…alle Frauen waren ein Mittel, das dazu diente, in die Nähe, in den Ausstrahlungsbereich dieses Geheimnisses zu kommen, über das sie, nicht aber die Männer walteten“.

Um an dieser Stelle hingegen nicht doch noch den Eindruck zu erwecken, als hätte die negative Einleitung nur den einen Sinn, nämlich den Leser in die Irre zu führen, sei hier noch ein Zitat aufgeführt, was wohl den letzten Unentschiedenen abschrecken wird, es sei denn, er ist Doktor der Philosophie und findet in diesem Satz endlich die Wahrheit, die er so lange vergeblich suchte:

„Ich sage, Gott muss sehr ich und ich muss sehr Gott sein, so verzehrend eins, dass dieser ER und dieses ICH ein einziges Ist sind und in dieser Istigkeit ewig an ein und demselben Werk schaffen. So lange aber dieser Er und dieses Ich, das heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein einziges Jetzt sein können, kann das Ich nicht gemeinsam schaffen oder eins sein mit dem Er.

Aha!






Mittwoch, 11. Juli 2012

Das Leben der Wünsche – Thomas Glavinic


 Wie bekannt, wie schön, wie unrealistisch ist die Vorstellung, dass uns ein Unbekannter nach unseren geheimsten Wünschen fragt und uns anbietet, diese zu erfüllen. Wie gut, dass so etwas immer nur Märchengestalten, Buchhelden oder Filmfiguren passiert. Denn das, was Jonas in diesem Roman zustößt, wollen wir vielleicht dann doch nicht selber erleben. Auch wenn es auf den ersten Blick so verlockend klingt. Denn nicht die laut von ihm ausgesprochenen Wünsche werden Realität (Verstehen! Weltfrieden!) sondern seine innersten, dunkelsten. Und so dauert es gar nicht lange, bis in diesem sich anfangs sehr flott weglesenden Roman Jonas’ Frau Helen, tot in der Badewanne liegt. Nein, so hatte sich der in die ebenfalls verheiratete Marie verliebte aber bei seiner Familie mit den beiden wilden Jungs lebende Ehebrecher das nicht vorgestellt. Da können einem schon schnell die Haare zu Berge stehen, so wie dem nun alleinerziehenden Vater, der fortan die seltsamsten Begebenheiten durchlebt. Geschickt gemacht vom Autor: Anfangs begreift man gar nicht, dass Jonas’ während schlafloser Nächte erlebte Abenteuer mit dem nach Bier riechenden, unrasierten Fremden vom Anfang der Geschichte zusammen hängen. Genau wie Jonas geht dem Leser (und der geneigten Leserin) dann so ganz langsam ein Licht auf. Doch im Gegensatz zum Protagonisten, der versucht, die Gedanken gar nicht erst nicht zu denken, die seine Ausflüge ins Weltall, in Vergangenheit und Zukunft, in dunkle Wälder und auf hohe Berge vielleicht erklären könnten, dürfen wir uns ruhig im Sessel zurück lehnen und dem weitern Verlauf der Dinge harren. Welche sich recht abwechselnd gestalten: So machen dem durch den Tod seiner doch irgendwie geliebten Frau arg Gebeutelten nun sämtliche Damen seine Aufwartung mit eindeutigen Angeboten. Sogar sein (wahrscheinlich nie ausgesprochener) Wunsch von einem flotten Dreier geht in Erfüllung. Wenn auch nicht ganz in der Konstellation, wie Mann sich das im Allgemeinen und Geheimen wünscht. Dann erklärt ihm Marie in einem sehr schön geschriebenen Brief, dass ihre Liebesbeziehung eine Pause einlegen müsse (und das, wo er nun endlich ohne Lügen und sogar in der eigenen Wohnung mit Ihr zusammen kommen könnte). Doch da deren Mann sich völlig grundlos (wirklich?) dazu entscheidet, in einer Söldnertruppe zu kämpfen, dauert es nicht sehr lange und sie nimmt Jonas an die Hand, führt in zum Auto, in den ersehnten gemeinsamen Urlaub, ja, bis hin ins gemeinsame Paradies. Und was wünscht man sich wohl, wenn man dort mit seiner Liebsten angekommen ist…?

Was ist das für ein Typ, dieser Jonas? Warum geht er fremd, warum entscheidet er sich nicht für Marie und gegen seine Familie oder eben genau konträr? Leicht aber einfältig wäre es, ihn, der da fragt: „Ist man schuld an Gefühlen?“ vorschnell abzuurteilen. Denn es wird sehr schön beschrieben, welche Gefühle in ihm toben, wie sehr er Marie liebt und sich sicher ist, in ihr die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Aber auch (insbesondere nach dem Tod seiner Frau), was er an Helen fand, warum sie ihm nicht gleichgültig war: „Ich habe Dich lieb gehabt. So sind die Dinge. Jemanden lieb zu haben ist nicht gerade wenig. Aber vielleicht ist es zuwenig.“ Oder auch, was ihm seine beiden, oft sehr anstrengenden Jungs bedeuten. Wie hin- und hergerissen Jonas ist, welch gequälte Persönlichkeit. Nein, er ist kein unsympathischer Auswärtsficker und Frauenheld sondern ein Mann, der sich sehr wohl Gedanken um das Leben macht und dieses recht erfolgreich versucht, auf Fotografien festzuhalten, welche man förmlich sehen kann, wenn man von ihnen liest. Sehr einfallsreich und aufwendig ist seine seit 10 Jahren fortwährende Fotoserie, in der er sich einmal im Monat vor neutralem Hintergrund selbst ablichtet. Marie ist von diesem „Daumenkino“ total begeistert und auch ich überlege, ob ich mir diese Idee nicht aneignen sollte.

Obwohl Jonas alles hat, was er zum Glücklichsein braucht, und noch viel mehr, peinigen ihn die Gedanken an Marie, an die Liebe: „Antworten auf die Fragen des Lebens... hatte er schon immer in der Liebe gesucht... Ob es einen Gott gab, hatte ihn weniger beschäftigt als die Frage, ob ihn eine bestimmte Frau liebte und was er für sie empfand, denn die Antwort auf jene Frage konnte für ihn in dieser enthalten sein.“

Wenn nun der Rezensent am Ende seiner Ausführungen gebeten würde, den Daumen nach oben oder nach unten zu halten, es fiele ihm nicht leicht, sich zu entscheiden. Denn zugegebenermaßen hat ihn die Handlung nicht nur einmal überfordert, sind Fragen offen geblieben. Dies macht zwar einerseits ein gutes Buch aus, hingegen können zu viele Ungereimtheiten auch schnell zum Verdruss führen. Aber da hier nicht nur die interessante Geschichte eines Mannes erzählt wird, der unser Nachbar, unser bester Freund sein könnte, sondern zudem viele wichtige Lebensfragen gestellt werden, über die nicht nur Jonas grübelt,  bewegt sich der Daumen wohl doch eher in Richtung Himmel. Die uns alle beschäftigende Frage nach der Sinnfälligkeit von Treue beantwortet Jonas für sich mit dieser Gegenfrage:
„Bedeutet Treue, bei jemandem zu bleiben, auch wenn man ihn nicht mehr liebt? Bedeutet Treue, seine wahren Gefühle zu unterdrücken, damit etwas, was einmal gewesen ist, nach außen hin weiterschimmern darf? Bedeutet Treue, einen Moment seines Lebens zu fotografieren und dieses Bild sein Leben lang anzubeten?“

Zugegeben, dies ist eine recht eindimensionale Antwort. Wie lautet Deine?

Dienstag, 3. Juli 2012

Die Fremde – Sándor Márai




Durch Zufall ist mir „Die Fremde“ in der Bibliothek über den Weg gelaufen (oder war es vielleicht so, dass ich ihr in die Arme lief?) und da mir „Befreiung“ vom gleichen Autor recht gut gefallen hatte, nahm ich sie kurz entschlossen mit nach Hause um sie mir näher bekannt zu machen. Ein wenig enttäuscht wurde ich dann: Nicht, weil man über die Fremde so gut wie gar nichts erfährt (dafür umso mehr über den Mann, der die letzten Minuten ihres Lebens mit ihr verbringt) sondern weil sich der Roman doch zeitweise so schwer tut wie die deutschen Touristen, von denen kurz berichtet wird, welche irgendwo an der heißen Mittelmeerküste träge in der Hitze lungern. Doch lasst Euch nicht abschrecken sondern nehmt dieses Buch dennoch zur Hand. Denn zumindest den Epilog sollte man gelesen haben: Das Gespräch des Antihelden, eines pariser Gelehrten mittleren Alters, mit seinem Schöpfer.

Bevor Viktor Henrik Askenasi diesen Monolog mit Gott führt, führte er 47 Jahre lang das Leben, das man von ihm erwartete. Und dann noch ein paar Monate lang eines, das man nicht nur nicht von ihm erwartete, sondern welches ihm Freunde, Bekannte und Kollegen sogar auszureden versuchten. Vergebens. Der mit Anna verheirate Professor und Vater einer kleinen Tochter lernt durch Zufall, dem er allerdings tüchtig unter die Arme greift, die junge Tänzerin Eliz kennen, schwänzt seine Vorlesung und kommt erst am folgenden Tage gegen Mittag zu seiner auf ihn warteten Frau zurück. Diese weiß ganz genau, was dies zu bedeuten hat und so schweigen die beiden sich stundenlang, einander gegenübersitzend, an und sagen sich dabei mehr als in den 15 Jahren zuvor: „Er hatte das Gefühl, noch nie und mit niemand so gut vorbereitet, so intensiv und mit einer solchen Fülle von Argumenten disputiert zu haben wie während dieses Schweigens.“ Glänzend beschrieben vom unsichtbaren Beobachter, diese Szene: „Eine schöne Frau, dachte er mit anerkennender Ritterlichkeit. Sehr schön sogar. Viel schöner als die andere.“ Viktor packt ein paar Sachen und zieht ins Hotel der Tänzerin, genießt die Liebe und das Leben und tut damit das, was man(n) in der Zeit, als der Roman spielt (höchstwahrscheinlich zwischen den Kriegen) eben nicht tat. Denn das tat man nachmittags zwischen 4 und 6, bevor man vom Schoß seiner Geliebten in den seiner Familie zurückkehrte. Nicht so Viktor, der Frau und Kinder sitzen lässt und mit seiner neuen Freundin ein wildes Leben zwischen Bett, Restaurantbesuchen, Partys und Müßiggang führt. Und eben weil er, im Gegensatz zu den vielen Menschen, die ähnliche Probleme und Fragen haben, konsequent handelt, wird er von seiner Umwelt überhaupt nicht verstanden: „Die Menschen sind bequem... und es wird schwer werden, es ihnen zu erklären. Sie haben ein paar fertige Begriffe: Freundschaft, Liebe, Ehe, Abenteuer, Verhältnis; und sie glauben, das Leben passt in diese fertigen Begriffe hinein. Mitnichten passt es hinein.“

Doch als feiner Beobachter merkt er dann bald, dass Eliz ihn zwar gelehrt hat, die alles entscheidende Frage zu stellen bzw. ihm hilft, diese überhaupt erst einmal für sich zu formulieren, ihm aber wohl nicht die Antwort auf dieselbe geben wird. Diese wird er, wie ein jeder von uns, ganz auf sich allein gestellt finden müssen. Daher begibt er sich, auch unter dem Druck der Freunde, die diese Art von Beziehung überhaupt nicht gut heißen, auf eine Reise nach Südeuropa. Hier wird ihm klar, dass es kein Zurück zu seinem alten, heuchlerischen Leben gibt, und so kündigt er seiner Frau endgültig die Ehe auf, die er im gleichen Moment der Tänzerin anbietet. Welche allerdings in der Zwischenzeit nach Südamerika abgereist ist, in männlicher Begleitung, versteht sich. So kommt seine Einsicht: „Es ist zweifelsfrei erwiesen, dass ich ungeachtet meines guten Willens und wider besseres Wissen nicht ohne sie leben kann“ wohl ein wenig zu spät und er sitzt ohne Frau, ohne Geliebte und ohne Antwort im einsamen Hotelzimmer.

Der Leser wird nun nicht nur in die Gedanken- und Gefühlswelt des einsamen Suchenden mitgenommen sondern auch auf diese Reise, an deren Endpunkt Viktor erst auf die treffend und vorzüglich beschriebenen Deutschen, dann auf Die Fremde und schließlich auf Gott stoßen wird. Nicht, dass er hier zum christlichen Glauben findet, nein, eher das Gegenteil ist der Fall: Nachdem er die aschblonde Frau, die ihn auf sein Zimmer einlud, dort besucht und nach nur wenigen Minuten leblos fallen lassen hat, trifft er in einer Kirche auf einen so sicher auftretenden und offenkundig im Glauben die Antwort auf die Frage gefunden habenden Mönch, dass er mit Gott hadert und diesem vorwirft, von ihm betrogen worden zu sein.

Kurze Zeit, nämlich so lange, bis er diesen Mönch trifft, scheint es so, als ob Victor in dieser wahnsinnigen Tat endlich die Antwort auf seine Frage („ob es Befriedigung gibt, das heißt, ob das Leiden einen Sinn hat“) gefunden hat, denn er fühlt sich das erste Mal in seinem Leben so richtig zufrieden mit sich und mit der Welt im Reinen. Doch dann, in gelassener Erwartung seiner Verhaftung und seines möglichen Endes, beginnt er diesen Disput mit Gott, aus dem ich gern einige Auszüge zitieren möchte und die das Buch am Ende dann doch richtig lesenswert machen:

 „...weil man ständig das Gefühl hat, sich beeilen zu müssen, man hat etwas zu tun, etwas Unaufschiebbares, irgendeine großartige und wichtige Aufgabe, die ohne einen nicht zu lösen ist…Man wird bereits erwartet, darf sich nicht verspäten…doch Du musst so tun, als hättest Du es eilig, selbst wenn du allein bist…

Köstlich, wie Viktor sich bei Gott über kleine Problemchen des Alltags, wie z.B. schmutzige Kämme oder verrutschende Schuhlaschen beklagt und dann schlussfolgert:
„Möglich, dass das ganze Werk vollkommen ist, ich weiß es nicht. Aber die Einzelheiten sind unvollkommen.“

So richtig philosophisch wird Victor, als er über das Lügen sinniert:
„Du hast einmal jemand belogen, du weißt gar nicht, warum, die Situation war danach, vielleicht wolltest Du klüger oder vornehmer erscheinen... Schließlich holt dich die Lüge ein, es lebt irgendwo ein Mensch und weiß etwas von dir…Sag, kann es nicht sein, dass für Dich dieser Jemand der Teufel ist…? Er sitzt in der Hölle und lächelt vor sich hin, weil er von Dir etwas wie. Könnte das nicht sein?“

Und am Schluss dann behandelt er in seinem Gespräch mit Gott DAS Thema, welches ihn (und so viele andere) zeitlebens beschäftigt, und es tut gut zu lesen, dass es auch anderen so geht:
„Weißt Du, es war so, ich habe immer an die Frauen gedacht... deswegen habe ich gelernt, deswegen bin ich gereist. Gar nicht mal an die Frauen, sondern an die Sache selbst... Ja, ich gebe es zu, ich habe alles nur deswegen gemacht ... Ich habe mich wirklich dagegen gewehrt, habe sie [die Worte] verscheucht, die Bücher hervorgeholt... Stell Dir vor, ich habe sogar Sport getrieben und ich bin der radikalsozialistischen Partei beigetreten... Und außerdem habe ich mich lange davor gefürchtet, weil ich geglaubt habe, dass es Sünde ist... Das war das Seltsamste... Diesen körperlichen Teil der Sache habe ich lange nicht verstanden... Auch ich habe geglaubt, es ist nur eine Begleiterscheinung, man muß es nur hinter sich bringen, es gehört dazu, aber im Grunde geht es nicht darum sondern um das Gute, Hingabe, Liebe... Eben nicht! Eben nicht! Es ist nicht wahr! Du hast mich betrogen!“

„Sag mir doch...: Warum hast Du mich betrogen?“ ... „Siehst Du, siehst Du... nicht wahr, Du weißt keine Antwort. Und da sitzen wir nun im Schlamassel.“