Sonntag, 28. Oktober 2012

Die lang quälende Frage: Ade Bessarabien - Ursula Oelschlägel

Dass mein erstes Auftragswerk dem Auftraggeber so gar nicht gefallen wird, tut mir zwar sehr leid, doch darf man einen Kritiker nicht um seine Meinung bitten, wenn man keine Kritik verträgt.

Doch wollen wir mit dem wenigen Positiven beginnen, das ich über dieses Buch, das weder dem Genre eines Romans noch dem einer Autobiographie gerecht wird, sondern eindeutig in die Kategorie „Nichtschriftsteller schreibt Nichtssagendes über sein Leben“ gehört, zu sagen habe. Für die Familienmitglieder der Autorin mag sich diese Aneinanderreihung von Verwandten-Besuchen mit Eierlikör-Orgien und Urlaubsfahrten in die ach so weite Welt vielleicht interessant lesen, alle anderen sollten bloß die Augen davon lassen. Nun gut, sicher mag der letzte Teil des Buches für alle, die selbst Vertreibung erlebt haben oder aus den Erzählungen der Alten kennen, interessant sein. Ich gebe zu, dass ich dieses letzte Drittel dann schon ziemlich flott weggelesen habe und die Erlebnisse der Mutter der Autorin schon recht interessant fand. Hat die „Schriftstellerin“, die mit „Anführungszeichen“ nur so um sich schmeißt und diese an allen unpassenden „Stellen“ einsetzt, vielleicht aber doch absichtlich gehandelt, als sie die „lang quälende Frage“ künstlich so in die Länge zog? Wollte sie eine Metapher schaffen zum nicht enden wollenden und grausamen Flüchtlings-Treck, den ihre Vorfahren gingen, die als Deutsche unter Russen und Rumänen lebten und 1940 zurück ins Kerndeutschland mussten? Wollte sie demnach auch den Leser auf eine ewig lange und quälende (sowie gleichermaßen vollkommen überflüssige) Reise schicken? Nein, diese Clevernis muss ich ihr leider absprechen. Dazu ist das vorliegende Werk einfach zu schlecht. Nicht nur inhaltlich sondern ebenso hinsichtlich des immer wieder fehlerhaften Ausdrucks, der jegliches schriftstellerisches Können vermissen lässt und eher an das Tagebuch einer 14-Jährigen erinnert. Und dann noch diese absolut unmögliche Interpunktion! Das Buch wimmelt von falsch gesetzten Kommata, Frage- und Ausrufezeichen wie ein Ameisenhaufen von Insekten! Das kann doch nicht sein?! Eine Seite mutet uns gar drei aufeinanderfolgende, normale Aussage-Sätze zu, die alle mit einem „!“ beendet wurden! Warum?! Sicher geschah dies, um dem inhaltslosen Stoff den Anstrich von Bedeutung und Wichtigkeit zu geben. Doch wer möchte wirklich wissen, welche Familienmitglieder zum Geburtstag der Oma erschienen und wann diese sich von ihrem Mittagsschlaf erhob?

Eine gute Seite hatte für mich allerdings die Lektüre dieses Buches doch noch: Ich weiß jetzt, dass auch mein Buch von einem Verlag angenommen und herausgegeben werden würde. Allerdings werde ich mir dann, wenn es so weit ist, einen Verlag suchen, der einen Lektor beschäftigt, der mich auf inhaltliche und sonstige Fehler hinweist. Mir wäre es einfach zu peinlich, ein Werk von solcher Qualität in den Druck und unters Volk zu geben.

Und hier jetzt noch für alle Interessierten die Beantwortung der lang quälenden Frage, die zweifelsohne für die Autorin und deren Leben von existenzieller Bedeutung war, und die ich mir nicht anmaße, in irgendeiner Art und Weise kleinzureden: Wer ist ihr leiblicher Vater? Es war ein russischer Offizier, der die damals 20 Jährige Mutter am Ende des Krieges mehrfach vergewaltigte bevor diese dann 1948 einen gutaussehenden Kriegsheimkehrer kennenlernte, der die Geschwister zeugte und keine Unterschiede zwischen diesen und der kleinen Ursula machte. Doch nur weil diese ewig lange brauchte, um ihrer Mutter endlich die Frage zu stellen, musste sie uns doch nicht auf solch langweilige Art durch ihr kleinbürgerliches Spießerleben führen. Oder?!

Samstag, 27. Oktober 2012

Tschick – Wolfgang Herrndorf

Eigentlich hätte dieser wunderbar kurzweilige Roman „Tschichschtarow“ heißen müssen, nämlich genau so wie einer der beiden Helden. Doch da „Tschick“ nun mal der Spitzname des asiatisch aussehenden und sehr gut Deutsch sprechenden Russen ist, der mit dem Ich-Erzähler den besten Sommer ever erlebt, heißt nun mal auch das kleine Büchlein so.




Ich liebe ja nun einmal Roadmovies, ob nun in Buch- oder Filmform. Und so hat mich diese herrlich verrückte Story über zwei 14-Jährige, die einen alten Lada Niva „borgen“ und damit in die Walachei aufbrechen (und die sie natürlich nie erreichen werden), wirklich angesprochen. Und sie wird wohl auch jeden ansprechen, der selbst in sich den Traum vom Ausbrechen, vom Verrücktsein, von Freundschaft sowie die Liebe am Reisen in sich trägt.

Da haben also die Sommerferien angefangen, Maiks Mutter ist wieder mal in die Beauty Farm gefahren, die in Wirklichkeit eine Entzugsklinik ist, und der Vater verschwindet für zwei Wochen mit seiner blonden Assistentin, selbstverständlich nicht ohne dem jungen Mann (der die ganze Geschichte im Nachhinein erzählt) allerhand Ermahnungen sowie 200€ im noblen Einfamilienhaus zu hinterlassen. Die ganze Klasse ist zu Tatjanas Geburtstagsparty eingeladen, außer eben den von Allen als Langweiler wahrgenommenen Maik, dem seltsamen Außenseiter Tschick und wenigen anderen. Dies bedrückt den Ich-Erzähler arg, hat er doch monatelang an einer Zeichnung gearbeitet, die er seiner großen Liebe Tatjana während eben dieser Party schenken wollte. Zum Glück weiß Tschick, wie man Ladas knackt, und so überrumpelt dieser den unglücklich Verliebten und beide fahren am Ort des Geschehens vor, übergeben die Zeichnung und verschwinden sofort wieder mit quietschenden Reifen. Überaus cool. Und dann geht’s so richtig los - und zwar gen Süden. Denn dort irgendwo ist angeblich die Walachei, in der Tschick nicht nur einen Großvater sonder auch zwei Cousinen hat („schön wie Orchideen“), die die beiden besuchen wollen. Ein wenig schwarzes Klebeband unter der Nase imitiert den nicht vorhandenen Bartwuchs, jedoch der sich leerende Tank macht den Beiden Probleme. Nicht, weil sie kein Geld zum Tanken hätten aber weil wohl jedem Tankwart die zwei Rotznasen im eigenen Auto aufgefallen wären. Also versuchen sie, aus einem geparkten Golf ein wenig Benzin abzuzapfen, was ihnen nur mit Hilfe der total verdreckten, fluchenden, neunmalklugen aber ziemlich begabten Isa gelingt. Die sie dann natürlich zum Dank auf den Rücksitz verfrachten und mitnehmen müssen. Den Gestank legt Isa während eines unfreiwilligen Bades in einem eiskalten Alpensee ab, die Haare anschließend daran mit Hilfe von Maik und das T-Shirt von ganz alleine. Was wiederum Maik nicht ganz kalt lässt und endlich ein wenig von seinen Gedanken an Tatjana ablenkt, die ihn sowieso nie beachtet hat. Es kommt zwar weder zum zwanglos von Isa angebotenen Fick noch zum ersten Zungenkuß, doch hat sich in Maik eindeutig etwas verändert.

Die Rumtreiber werden während ihrer gerade mal eine Woche dauernden Reise durch die deutsche Provinz von den Schönheiten der Natur überwältigt (ein großes Plus in diesem Roman sind die ganz klasse beschriebenen diesbezüglichen Beobachtungen), von einem alten Einsiedler mit einem Luftgewehr beschossen, von Polizisten gejagt, von einer skeptischen Krankenschwester verhört und von einem Schweinetransporter nahezu gekillt und erleben somit in dieser Zeit mehr als Mancher von uns in einem ganzen Leben. Maiks Vater ist wahrlich not amused über diesen Ausflug, doch kann er den Jungen selbst mit Drohungen und Schlägen nicht davon bringen, seinen mittlerweile zum wirklich echten Freund mutierten Kompagnon vor Gericht zu verraten. Und so beginnt das neue Schuljahr ganz anders als das alte geendet hat: Tatjana zeigt das erste mal überhaupt Interesse an dem von Unfällen geschundenen Maik und die ganze Klasse wird Zeuge davon, wie zwei echte Bullen mit Handschellen und Wumme diesen zu einem ungeklärten Lada-Diebstahl befragen. Vortrefflich diese Szene, als der mittlerweile gar nicht mehr so ängstliche Teenie die beiden benutzt, um der halben Schule trotz weicher Knie zu zeigen, dass er eigentlich ein echt cooler Typ ist. Als dann noch ein Brief von Isa eintrifft, die ihn unter der Weltuhr am Alex treffen will, kann man fast schon von einem Happy End sprechen. Und zwar von einem der Sorte: Alles ist möglich, male Dir selber aus, wie es weitergehen wird. Auch wenn dieses Ende dann lediglich darin besteht, dass Maik sich mit seiner Mutter (die im Übrigen trotz ihrer Alkoholsucht eine ziemlich coole Frau zu sein scheint) solidarisiert und Fernseher, Blumentöpfe sowie verschiedenste Möbel in den Pool wirft, während zwei dumm aus der Wäsche glotzende Gesetzeshüter ratlos am Beckenrand stehen.

Nun könnte man meinen, dass Maik und Tschick einfach nur zwei dumme Volltrottel wären, die zu blöd sind, sich eine Landkarte zu kaufen und auch nicht so ganz genau wissen, wie man mit Hilfe einer Uhr herausfindet, wo nun eigentlich Süden ist. Doch sind die beiden weder blöd noch gefühllos, im Gegenteil: Sie genießen ganz bewusst ihre neu errungene Freiheit, die Natur, ihr seltsames aber spannendes Leben.

Köstlich die Szenen, als die beiden sich über Tschicks Herkunft unterhalten und darüber diskutieren, dass es zwar keine englischen Franzosen, sehr wohl jedoch jüdische Zigeuner gibt. Oder wenn sie sich während einer sternenklaren Nacht gegenseitig versichern, dass der Anblick der immer größer werdenden Sternenpracht besser sei als Fernsehen (nicht ohne die Anmerkung zu machen, dass Fernsehen aber auch gut sei). Herrlich zu lesen ist das Gespinne darüber, dass auf einem fernen Planeten gerade zwei junge Rieseninsekten mit einem geklauten Helikopter unterwegs sind. Und dass nur diese beiden daran glauben, dass es irgendwo da draußen einen Planten gibt, auf dem gerade zwei junge Menschen mit einem geklauten Auto unterwegs sind. Für alle anderen Insekten ist das natürlich eine Horror-Vorstellung (weil ja diese Menschen nicht schleimig sind wie sie selbst).

Als der sonst so selbstsichere Tschick am Ende der Reise seinem Kumpel ein wenig beschämt und umständlich erklärt, dass er nicht so auf Mädchen stehe, denkt dieser in seinem Kopf etwas, das ich mir ganz genau so auch schon oft vorgestellt habe. Selber schwul zu werden wäre: „…jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen…aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber.“

Maiks Mutter hatte vor vielen Jahren einmal zwei Sätze gesprochen, die im Kopf ihres Sohnes haften blieben (was beweißt, dass man nicht nur aus Büchern etwas lernen kann sondern hin und wieder auch von seinen Eltern). Da ich mich diesen Aussagen voll und ganz anschließe, stelle ich sie nun ans Ende dieser Besprechung. Auf dass sie jeder beherzigen möge:

„Erstens, man kann über alles reden. Und zweitens, was die Leute denken ist scheißegal.“

Montag, 22. Oktober 2012

Der weite Weg nach Hause – Rose Tremain



Liebe Leser und Blogverfolger: Hier ist endlich mal wieder eine uneingeschränkte Leseempfehlung für Euch! Und dies, obwohl der vorliegende Roman nicht auf meiner stetig anwachsenden Liste lesendwerter Bücher stand sondern mir durch Zufall in die Hände fiel. Oder WEIL…!

Dabei ist weder die Sprache des Buches besonders ausgefeilt, noch kommen exzessive Gewalt oder ausufernde Erotikszenen vor, die Geschichte ist nicht besonders lustig oder spannend erzählt, und es werden auch nicht mehrere Handlungsstränge oder Zeitebenen geschickt miteinander verwebt. Selbst zum Lieblingsthema Liebe wird der Leser kaum Neues erfahren. Nein, diesem Buch reicht eine ganz klassisch dem Zeitstrahl folgend erzählte, mehr oder weniger stringente Geschichte aus, um den Leser in seinen Bann zu ziehen. Ob es hierbei von Vorteil ist, wenn man, genau wie der Protagonist Lev, aus dem ehemals sozialistischen Lager stammt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Dennoch half mir meine Vergangenheit an mancher Stelle, mich in den mir gleichaltrigen sympathischen Reisenden hineinzuversetzen.

Kommen wir zum Inhalt der Geschichte, die als modernes Märchen beworben wird. Doch halt: Ein Märchen geht doch immer irgendwie richtig gut aus und alle leben bis ans Ende ihrer Tage glücklich zusammen. Dieser Satz fehlt am Ende dieses Buches – ein weiterer Pluspunkt auf meinem ganz persönlichen Punktekonto. Doch müssen im Märchen die Helden nicht vor dem Happy End vielerlei Gefahren und Abenteuer bestehen, kommen ihnen nicht oftmals Gedanken des Aufgebens? Genau! Und so geht es Lev auch:

Aufgegeben hatte er, nachdem seine wunderschöne Frau Marina, mit der er in einem kleinen Dorf in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengelebt hatte, an Leukämie gestorben war. Keiner, dem nicht Ähnliches widerfahren ist, kann nachvollziehen, wie man sich in solch einer Situation fühlt und wie man damit umgeht. Lev lag tage- und wochenlang trauernd in der Hängematte im Haus seiner Mutter, bevor er dann den Entschluss traf, sein Leben nun selbst in die Hand zu nehmen und sich in einen Bus nach London setzte. Hier in diesem Bus nun, auf dieser endlos langen Fahrt, setzt die Erzählung ein (weshalb wir auch von der Vergangenheitsform in den Präsens wechseln wollen) und hier in diesem Bus hätte sich Levs Schicksal bereits zum Guten wenden können, hätte er nicht noch zu sehr um Marina getrauert. Später, so können wir nur ahnen, wird ihm schmerzlich bewusst, dass er einen seiner größten Fehler begeht und die ihm von seiner Sitznachbarin Lydia angebotene Freundschaft ablehnt. Diese Lydia hätte ich sehr gern kennen gelernt. Sie ist nicht wirklich attraktiv (einer der Gründe, warum Lev immer auf Abstand bleibt) aber immer wieder hilfsbereit, vergebend, freundlich und nachsichtig mit Lev. Diese Lydia wird später, wenn sie ihr eigenes Glück gefunden hat, zu Lev einen Satz sagen, der zeigt, was in diesem traurigen Mann alles steckt, wie er auf andere wirken kann, ohne es selbst zu wissen: „Natürlich waren Sie es, Lev, der die Erinnerung an das, was ich für einen Mann empfinden kann, wieder in mir geweckt hat. Ich weiß, dass Sie nie etwas für mich empfunden haben aber das ist nicht wichtig“.

Die ersten Tage und Wochen in London, als Lev einen Preisschock nach dem anderen erlebt, in einem Kellerloch unter der Straße schläft, von Polizisten aufgeschreckt und von einem netten Araber mit kostenlos Kaffee und Döner bewirtet wird, sind so unglaublich plastisch beschrieben, dass ich mich bei der Lektüre sofort an meinen ersten London-Aufenthalt im Sommer 1990 erinnert fühlte. Genau wie Lev hatte ich mich auf dem großen, hellen Schiff nach England total verloren gefühlt (und war gleichzeitig extrem fasziniert) und kam dann völlig unvorbereitet und ohne Plan in dieser turbulenten Stadt an. Wen wundert’s also, dass ich mich sofort mit Lev verbrüderte und fortan an seiner Seite durch Ralph Mc Tells’s „Streets of London“ wanderte?

Sehr präzise werden des Neuankömmlings Eindrücke und Gefühle geschildert, als er nach ein paar erbärmlichen Tagen in das Haus von Lydias Gastgebern eintritt: Er fühlt sich, als hätte er soeben die Schwelle zum Paradies überschritten: Das Essen, dass ihm serviert wird, ist so unglaublich neu und gut, dass er es am Liebsten ganz genauso bis ans Ende seines Lebens essen würde, so wunderbar schmeckt es ihm. Wer nun je in einem englischen Reihenhaus stand und wer jemals die englische Küche hautnah erleben musste, der bekommt eine Ahnung davon, wie dunkel es in Lev’s Innerem aussah und wo er wirklich her kam.

Mit Hilfe von Lydia findet der arbeitswillige und lernbereite Lev schnell eine Stelle im Luxusrestaurant von GK Ashe, wo er als „Schwester“ (so heißen hier die dauernd wechselnden menschlichen Spülmaschinen) endlos lange und quälende Schichten an seiner 2,5m langen edelstahlgänzenden Abtropffläche schrubbt. Und den Fußboden. Die Gaskocher, die Arbeitsplatten, alles. Und das, nachdem gegen 1Uhr am Morgen alle anderen Mitarbeiter längst nach Hause gegangen sind. Es ist eine brutale Arbeit und die 7₤ brutto, die er in jeder grausamen Stunde verdient, reichen längst nicht so lange, wie ihm sein bester Freund Rudi zu Hause hatte weismachen wollen. Dennoch zieht nun endlich so etwas wie ein geregeltes Leben ein, denn Lev findet beim von Frau und Tochter verlassenen Christy nicht nur ein Kinderbett mit Giraffenbettwäsche für sein wahrlich müdes Haupt, sondern auch so etwas wie Freundschaft und ein wenig Wärme. Und dies, obwohl die Wohnung kahl und kalt wirkt, so wie die eines verlassenen Mannes eben, der sich komplett aufgegeben hat. Lev schafft es nun, ein wenig Geld zu Mutter und Tochter nach Hause zu schicken und immer wieder mit seinem besten Freund Rudi zu telefonieren, den ständig Sorgen um seinen „Tschewi“ (einen 25 Jahre alter Chevrolet) quälen. Und zu guter Letzt überwindet Lev mit der etwas molligen aber überaus quirligen, ja teilsweise wahrlich wilden Sophie, die ebenfalls im GK Ashe arbeitet, zumindest zeitweise seine Trauer über den Verlust der Frau und der Heimat. Es geht weiter bergauf im Leben des Immigranten, als er vom Besitzer des Restaurants befördert wird und fortan Gemüse für die Köche vorbereiten darf. Auch dies ein Knochenjob, der keine Gnade kennt aber einer, bei dem in Lev etwas beginnt: Er begeistert sich für die Idee des Kochens, schaut sich die Tricks der Köche ab und macht sich vielerlei Notizen. Schließlich ist das Restaurant, in dem er hier arbeitet, vom Niveau her soweit von den ihm bekannten Gaststätten seiner Heimat entfernt wie Marilyn Monroes süßer Arsch von Helmut Kohls fettem Hintern.

Alles Bestens also im Leben des Einwanderers, der scheinbar nun wirklich im Westen angekommen ist? Keineswegs: Gerüchte über den Bau eines Staudamms, der sein Heimatdorf ertränken wird, ständige Vorwürfe seiner Mutter, flehentliche Bitten seiner kleinen Tochter, doch bald wieder nach Hause zu kommen und schließlich Rudis Kapitulation dem Tschewi und sich selbst gegenüber, machen Lev schwer zu schaffen. Sein schlechtes Verhalten zur immer wieder aktiv werdenden Lydia und zu der sich mittlerweile in Künstlerkreisen bewegenden Sophie führt bald zum Verwürfnis mit beiden Frauen. Nur das Glück seines Vermieters Christy, der sich in eine reife Inderin verliebt (wer je den anmutigen, braunen Bauch einer indischen Schönheit unter deren Sari hervorlugen sah und aus nächster Nähe bewundern durfte, wird wissen, wovon ich hier schreibe) schwächt an dieser Stelle die immer wieder dem Buch eigene Melancholie ein wenig ab. Niemand, am aller wenigsten wohl Christy selbst, hätte je zu hoffen gewagt, dass er noch einmal vom Liebesglück kosten dürfe.

Als dann jedoch die Kündigung seines Küchenjobs über Lev kommt, haut er ab aus der Großstadt und zieht zu einem immer lachenden chinesischen Schwulenpäärchen in einen abgefuckten Wohnwagen, der mitten im Feld eines Gemüsebauern steht. Dort verdingt sich Lev nun als Spargelpflücker (auch um diesen Job beneide ich ihn keinesfalls) doch wird er auch hier nie wirklich ankommen. Trotz der liebevollen Behandlung durch die beiden süßen Chinesen. Aber: Während der endlosen Stunden bei monotoner Arbeit hinter dem stinkenden Traktor keimt und wächst Lev’s Idee, mit der er alle seine Probleme lösen möchte.

Zurück in London geht es dann zumindest finanziell wieder bergauf, weil er nun als Kellner in einem griechischen Restaurant arbeitet. Durch einem Zweitjob als Küchenchef im Altenheim (ebenfalls 7 Tage die Woche!) verbessert sich seine penunsiäre Situation drastisch und zum ersten Mal in dieser Geschichte überspringt nun die Autorin eine große Zeitspanne: Plötzlich sehen wir Lev an einem eiskalten Wintermorgen in sein Dorf laufen, der Tschewi und Rudi fahren erst an ihm vorbei, bevor sie dann schließlich doch stoppen, das völlig unerwartete Widersehen wird mit Wodka gefeiert und Lev’s Plan wird konkretisiert. Geld ist ja nun durch monatelanges Malochen ausreichend vorhanden. Weitere Details dieser wunderschön traurigen und dennoch Mut machenden Geschichte will ich an dieser Stelle gar nicht ausführen, und auch meine Bemerkung zum fehlenden Happy End mag ich hier nicht konkretisieren.

Was wir in diesem Roman finden, was wir aus diesem Buch mitnehmen können ist die Hoffnung, dass das Leben im Fluss ist und sich immer wieder verändert. Und dass es nun mal eine Gesetzmäßigkeit ist, dass auf gute Zeiten schlechte folgen werden. Aber, und das ist das Wichtigste: Diese Aussage gilt ebenso gegenteilig! Sehr gefühlvoll wird der Leser in Lev’s Leben sowie in dessen Gefühls- und Gedankenwelt eingewoben. Als der Dönerverkäufer den von seinen ersten Londoner Eindrücken völlig überwältigten Lev beim Trauern um sein vergangenes Leben und um seine Marina (die mit ihm schlief, wie eine Zigeunerin) ertappt und sagt: „Wenn Männer weinen, ist es nie wegen nichts…“ können einem schon mal die Augen feucht werden. Da stört es nicht wirklich, dass die Autorin unseren Lev einige Male mit starkem Akzent sprechen lässt, obwohl er über weite Strecken der Geschichte des Englischen (respektive Deutschen) sehr wohl fehlerfrei mächtig ist. Auch die Tatsache, dass der Bau des Staudamms und die folgende Flutung der umliegenden Dörfer innerhalb weniger Monate zustande kommt, ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass die Autorin sich nicht mit den Trockenzeiten von Beton auskennt als dem unermüdlichen Arbeitswillen der postsowjetischen Arbeiter und daher ohne Weiteres verschmerzbar.

Ob der geneigte Leser die in diesem Fall eher negativ angehauchte Aussage: „Träume machten einen leichtsinnig, schickten einen auf Pfade, die man normalerweise nicht einschlagen würde“ nicht vielleicht auch ins Positive transformieren möchte, sei diesem selbst überlassen. Ich habe meine Entscheidung in der Bewertung dieses Satzes jedenfalls spontan getroffen und halte nun zu ihr! Ebenso, wenn auch mit weniger Inbrunst, verfechte ich auch die an einer anderen Stelle getroffene Lebensweisheit, dass es: „... wichtig für jeden Menschen ist, wenigstens eine große Idee im Leben zu haben“.

Kurz vor dem Ende der Geschichte, als Lev, immer wieder auf Lydias Besuch hoffend, seinem Freund Rudi alles über seine Beziehung (oder sollte man besser sagen: Nichtbeziehung?) zu dieser Frau erzählt, entgegnet Rudi den weisen Satz: „Sie kommt nicht, weil sie sich vor dem fürchtet, was sie noch für dich empfindet. Also musst Du es einfach akzeptieren und vergessen ...“ So wahr dieser Ratschlag auch sein mag: Ich kenne meinen Lev mittlerweile so gut, dass ich weiß, dass er sie eben NICHT vergessen und stattdessen bis an sein Lebensende darauf warten wird, dass Lydia sich wieder zeigt. Genauso wie er immerfort von den herrlichen Nächten mit Sophie träumen wird. Er ist eben nicht nur ein zupackender Macher sondern auch ein unvernünftiger Spinner. Wofür ich ihn liebe.

Donnerstag, 4. Oktober 2012

Die Unberührten – Robert Schneider


Des Kritikers Meinung zu dem vorliegenden Roman ist unausgewogen. Und dies, obwohl doch eigentlich alles enthalten ist, was ein gutes Buch braucht, um vom Publikum geliebt und vom Rezensenten zumindest geachtet zu werden: Ein wenig Liebe, etwas Sex, nicht zu viel aber doch ein gutes Stück Gewalt, immer wieder neue Hoffnung gefolgt von wiederkehrenden Enttäuschungen, vielfaches Leid, ein echtes Wunder und ein offenes Ende.

Im Folgenden wird man daher weder eine uneingeschränkte Leseempfehlung erwarten können noch muss man damit rechnen, recht viel Negatives über diese zwischen den Weltkriegen handelnde Geschichte zu lesen. Es bleibt daher dem neugierigen Leser nicht erspart, „Die Unberührten“ selbst zur Hand zu nehmen und sich ein Urteil zu bilden.

Ein kleines Mädchen in einem schweizerischen Dorf der 20er Jahre besticht durch ihre anrührende Stimme und durch ihre vom allgemeinen Geist der Zeit (und der beschränkten Kleinkariertheit des Dorflebens) abweichende Gedanken- und Gefühlswelt. Dem bärbeißigen Monsignore fiel dies schon lange auf: „Diese Welt schmeckt ihr nicht, also erfindet sie eine neue. Nicht die Nüchternen machen die Welt bewohnbar - die Träumer“.  Nach einem nächtlichen Traum weiß sie mit beneidenswerter Sicherheit, dass sie bald weit weggehen wird und bereitet sich auf diesen Schritt mit großer Konzentration und Gelassenheit vor.

Von einem Menschenhändler wird sie dann tatsächlich, kurz nach dem Verschwinden des geliebten Vaters und dem Tod der schönen Mutter, auf einem riesigen Schiff mitsamt ihrer neuen aber falschen Familie nach New York eingeschifft. Dass sie dieser Familie durch eine mutige Aktion am Einwandererschalter auf Ellis Island einerseits die Sklavenarbeit in einer der zahlreichen Fabriken erspart, diese aber andererseits in das verarmte Europa zurück verfrachtet, bemerkt sie gar nicht ob der Freude über ihre gelungene Racheaktion am ekelhaften Agenten Narrody. Nur der blitzschnellen Reaktion eines größeren Jungen, der ihr schon am Bahnhof und im Schiff aufgefallen war, verdankt sie schließlich doch noch die Einreise ins gelobte Land. Ohne darüber zu reden (Balthasar ist anscheinend stumm, was jedoch eher am zuvor erfahrenen Leid als an eventuellen physischen Problemen liegt), bleiben die beiden zusammen, wohnen einige Zeit bei einem Fleischer, wo Balthasar die später noch benötigte Kunst des Körperzerteilen erlernt, und richten sich schließlich ein Loch unter einer Brücke wohnlich ein. Antonia hatte vor, ihre neu gewonnene Freiheit und auch ihre Weiblichkeit nun endlich auszuleben und aus dem lauten, dreckigen Loch unter der Brooklyn Bridge ein gemütliches Zuhause zu zaubern. Hier wollte sie dann endlich mit ihrem „großen Bruder“ Balthasar allein sein. Dieser jedoch konnte mit diesem ganzen Krims Krams, den sie irgendwoher anschleppte, überhaupt nichts anfangen und so gab Tony nach und nach auf, nachdem sie noch eine Weile lang versucht hatte, wenigstens in ihrer Hälfte des Raumes Ordnung und Sauberkeit zu halten. Wenn die Beiden nicht einfach nur reglos dalagen und verrotteten, unternahmen sie ihre Beutezüge durch die Stadt, doch wurden sie immer phlegmatischer und teilnahmsloser. Ein immer gut gelaunter „General“ hatte es den Beiden jedoch irgendwie angetan und auch er schien sie in sein Herz geschlossen zu haben und kümmerte sich in väterlicher Art – oder sollte man sagen: wie ein lieber Onkel ? – insbesondere um die immer erwachsener und schöner werdende Antonia. Diese nahm sowohl ihre Entjungferung durch den Alten wie auch die kurz darauf folgende Verprostituierung klaglos in Kauf, und auch Balthasar, der zwar ahnte, dass ihn mehr als die gezeigte kameradschaftliche Freundschaft zu ihr zieht, verfolgte dieses Schauspiel lediglich als passiver, unbeteiligter Beobachter. Als sie einmal wegen einer schlimmen Krankheit kurz vor ihrem letzten Atemzug stand, beobachtete er sie mehr interessiert am Vorgang des Sterbens (wollte er doch die Seele entweichen sehen) als mitfühlend oder gar helfend.

Doch Balthasars schweigsame Art und dessen fehlende Aufmerksamkeit für Antonia und die Dinge, die uns Menschen leben lässt, hinderte diese nicht daran, eine schmerzliche Liebe für diesen seltsamen aber für sie so wichtigen Menschen zu entwickeln. Ihre Sehnsucht nach einer Umarmung, nachdem ein Sonnenstrahl auf dessen Gesicht gefallen war, forderte sie regelrecht dazu auf, seine Hand ergreifen, diese streicheln und sich an ihm festklammern. Der junge Mann ließ all dies zwar geschehen doch fühlte Tony eine traurige Kälte von ihm ausgehen. Sein Herz schlug nicht, er hatte keinerlei Empfindungen und sann lediglich auf Rache für all das, was ihm in der Vergangenheit angetan worden war. Wegen dieser unerwiderten Liebe stand Antonia kurz davor, ihr Leben zu beenden, weil dieser bohrende Schmerz nicht mehr auszuhalten war: „Ein sinnloses Leben war leicht zu ertragen. Man brauchte sich nur hinzulegen, die Glieder auszustrecken und zu warten, bis es vorbei ist. Aber ein Leben auszuhalten, in dem es plötzlich eine Vision gab, die sich nicht erfüllen sollte, war unerträglich.“

Keiner der beiden wusste, dass sich tief in Balthasar doch noch ein Funke von Liebe festgesetzt hatte, der sich erst dann entwickeln und Bahn brechen konnte, nachdem er endlich Rache geübt hatte. Stellvertretend für das vergangene und gegenwärtige Leid meuchelte er seinen Arbeitgeber, der ihn nächtelang beim Fische - Sortieren gequält hatte. Wie er es nach der Ankunft in Amerika beim Fleischer gelernt hatte, zerlegte er den fiesen Kerl in alle erdenklichen Einzelteile, was natürlich einen Sturm der Entrüstung ob der schaurig Tat in der Stadt verbreitete, die in allen Gazetten ausgiebig und genüsslich ausgeschlachtet wurde. Nun war es Balthasar möglich, sich Antonia auf anrührend zärtliche Weise ein wenig zu nähern, doch tat er dies anfangs nur während sie schlief. So stark, dass er seine Gefühle ihr gegenüber hätte zugeben können, hatte er sich noch nicht verändert. Doch dauerte es nicht lange, bis Antonia und Balthasar die körperliche Liebe mit einer ungezügelten Wucht und Lust praktizierten, die an ein mächtiges Strohfeuer erinnert, dass zwar unheimlich groß und heiß brennt aber nach kurzer Zeit nichts als ein Häuflein Asche zurücklässt.

Und so kam es, dass ein junger, reicher Musiker Antonias traurigen Gesang hörte und die durch einen Kunden schwerverletzte und extrem verwahrloste Frau mit in die Villa der Eltern brachte. Da Aron keinerlei Zweifel daran lies, dass er sich auch ohne die Unterstützung der Familie um das Mädchen kümmern werde, nahm sich die Mutter ihrer an und adoptierte sie kurzerhand als Nichte. Natürlich genoss Antonia sehr, dass sie das erste Mal in ihrem Leben richtig viel und gut zu essen hatte, Leibwäsche aus Satin tragen und andere Annehmlichkeiten genießen durfte. Doch spürte sie Arons Liebe eher als Last, denn sie konnte sie nicht so erwidern, wie sie es hätte tun sollen. Ihre ohnehin bereits unglaublich anrührende und verblüffend professionelle Stimme wurde fortan von einem Gesangslehrer geschult und Antonia bekam die Chance, im Chor der Metropolitan Opera endlich das zu tun, was sie richtig gut konnte: Singen!

Für mich ist die Szene, in der sie  schließlich vom Dirigenten und vom Publikum entdeckt und mit „über einstündigen Ovationen“ gefeiert wurde, dann doch ein wenig zu dick aufgetragen aber immerhin freut man sich mit dem armen Mädchen, dass ihr Traum nun endlich Erfüllung gegangen und sie bei der geliebten „Tante Amerika“ angekommen ist.

Dies ist also die anrührend erzählte Geschichte der Antonia Sahler aus dem armen Reinthal, doch hat sich mir nicht recht erschlossen, was sie uns denn nun eigentlich sagen will. Sicher möchte uns der Autor Mut machen, unser Leben zu leben, auch wenn es uns vielleicht gerade so geht wie Arons Eltern: „Sie liebten einander sehr, besonders wenn der andere abwesend war, und ihre Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwischen ihnen lag“.

Solcherlei Sätze sind wirklich schön geschrieben und man trifft sie immer wieder an. Auch hält für das Buch für alle unerwidert Liebenden ein paar Hoffnung machende Aussagen parat wie die des alterwürdigen aber verbitterten Monsignore aus Antonias Dorf: „Die wirkliche Liebe kennt keine Hoffnung, keine Berechnung und hat keinen Plan, Darum ist sie so groß. Größer als unser Menschengott. Amen“.

Doch fehlt mir ein wenig der rote Faden, auch bietet das vorliegende Werk keine wirklich „süchtig“ machende Unterhaltung wie manch anderes Buch, das man in jeder freien Minute zur Hand nimmt. Auch eine Grundaussage suchte ich vergebens. Doch ist diese ja vielleicht für Manchen im verzweifelten, bei näherer Betrachtung aber auch irgendwie realistisch das Leben einschätzenden Wort des eigentümlichen Pfarrers zu finden:
„Erstens: Das Leben hat keinen Sinn. Zweitens: Du Mensch, versuche nicht, ihm einen Sinn zu geben. Drittens: Verzweifle! Viertens: Verzweifle wieder! Fünftens: Es gibt keine Hoffnung. Sechstens: Es ist alles umsonst. Siebtens: Jetzt, Mensch, leb weiter!“

P.S.: Ersetzte man im oben stehenden Zitat das „b“ im Wörtchen „Leben“ durch ein kleines „s“, so könnte man sich schnell mit dem doch eigentlich wirklich schön geschriebenen Buch versöhnen und nun frohen Mutes und voller Spannung das nächste vom Stapel nehmen, so wie ich es jetzt sofort praktizieren werde.