Dienstag, 11. September 2012

Reise zwischen Nacht und Morgen – Rafik Schami


Das ist schon interessant: In meiner vorhergehenden Buchbesprechung habe ich Tiziano Terzanis Einstellung zum Altern gepriesen, weil dieser sich mit seiner Krankheit arrangiert und dem Tod frohen Mutes ins Auge geblickt hatte. Im vorliegenden Roman hingegen gefällt mir, wie sich der 60-jährige Zirkusdirektor Valentin Samani wieder aufrafft und beschließt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und mit jedem Tag ein wenig jünger zu werden: “Der Tod ist brutal und mächtig, doch alle Brutalen und Mächtigen kann man mit List betrügen.“ Gut, seine einzige „Krankheit“ bestand in der Pleite seines Zirkus und der damit einher gehenden Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit, des seit einem Jahr als Witwer dahin siechenden Mannes. Wie so oft im realen Leben sind auch hier eine junge Frau und eine neue Liebe der Grund für den Sinneswandel, hier noch gepaart mit der wirtschaftlichen Genesung des Familienbetriebes. Ein Brief eines ehemaligen Kindheitsfreundes aus dem Orient, der mittlerweile reich aber sterbenskrank ist, bringt Geld in Hülle und Fülle und eine neue Aufgabe: Der Zirkus soll schnellstmöglich in den Orient reisen – wohin wird zwar nicht explizit erwähnt, doch spielt der genaue Ort der folgenden Handlung keine wesentliche Rolle. Man könnte sich durchaus Damaskus oder Tripolis, Marrakesch, Tunis oder auch Bagdad als Wohnort des kranken Freundes Nabil vorstellen, wobei Syrien schon wegen der Herkunft des Autors am wahrscheinlichsten ist.

Nun werden in außerordentlicher Geschwindigkeit neue Tiere angeschafft (und seltsamerweise auch in kürzester Zeit so dressiert, dass sie als neue Attraktion herhalten können), Valentins „Traumzelt“ angefertigt und die Mitarbeiter samt ihrer Familien zusammengetrommelt. Auf einem Seelenverkäufer geht es durch gewaltige Stürme in die fiktive Stadt Ulania, alles verläuft unglaublich reibungslos und der Zirkus wird ein absoluter Hit. Schließlich müssen die Besucher auch keinen Eintritt zahlen, Nabil wollte es so und finanzierte dies alles. Auch schafft es dieser unheimlich reiche ehemalige Geschäftsmann trotz seiner schweren Erkrankung spielend, das Publikum fortan durch den Abend zu führen, was Valentin die Gelegenheit gibt, sich der Geschichte seiner Mutter (die sich in einen Mann aus ebenjenem Ulania verliebt hatte) zu widmen und Ideen für sein Buch von einer großen Liebe zu sammeln.

Ich gebe zu, dass ich, sicherlich nicht zuletzt wegen der derzeitigen dramatischen Lage in Syrien (gemeinhin wird diese ja in den Medien als „Konflikt“ bezeichnet, obwohl ein diktatorischer Mörder in einem schlimmen Bürgerkrieg hier sein Volk abschlachtet) mit einer großen Erwartungshaltung in die Lektüre eingestiegen bin. Diese wurde dazu ständig von Anspielungen über phantastische zukünftige Begebenheiten geschürt – kaum eine dieser Versprechungen wurde jedoch im weiteren Verlauf der Handlung erfüllt.

Sicher, Schami beschreibt die für den Orient  typischen Gassen der Altstadt sehr trefflich anhand der Beobachtungen und Notizen von Valentin und seiner neuen Liebe Pia (die mittlerweile Ihren Briefträgerjob an den Nagel gehängt hat und dem 30 Jahre älteren Valentin hinterher gereist ist). Auch bei der sehr plastischen Darstellung des Hammam, der typisch orientalischen Badeanstalt und des dort anzutreffenden typischen Masseurs, musste ich, in Erinnerung an meinen Istanbul-Besuch, wohlig schaudernd vor Schmerzen zusammen zucken. Und auch die Wortschöpfung „Nachmorg“ gefällt mir sehr gut. Das ist die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, in der sich die beiden alten Freunde täglich trafen, um sich Geschichten über ihr Leben zu erzählen. Wie sie es in ihrem Alter und Gesundheitszustand geschafft haben, den ganzen Tag im Zirkus zu arbeiten, auf der Suche nach Spuren von Valentins Mutter durch die Gassen zu streifen, am Buch zu schreiben, der Liebe zu frönen UND sich dann täglich am Nachmorg zusammenzusetzen, sei dahingestellt. Vielleicht gelingt ja auch mir im Alter, was den beiden anscheinend vergönnt war, nämlich mit 4 Stunden Schlaf täglich auszukommen. Wie viel Zeit hätte man dann nicht für all die schönen Dinge wie Lesen, Schreiben, Lieben…!

Ich nehme an, dass „Reise zwischen Nacht und Morgen“ nicht Schamis bestes Werk ist, nein ich wünsche es ihm sogar von Herzen und lasse mich gern in der Zukunft von seiner Sprachgewalt und Raffinesse beeindrucken. Im vorliegenden Roman allerdings ist mir seine orientalische Art der Übertreibung doch ein wenig zu kitschig und unseriös. Wer glaubt schon Geschichten wie diese, dass die 97-jährige Tante von Nabil, die sich beim Lachen so stark verschluckt hatte, dass sie daran erstickte, ihrem Sohn noch erzählen konnte, wonach ihr „im Angesicht des Todes“ zumute sei, nämlich: „Nach einer großen Portion Zitroneneis, einer Riesentafel Schokolade mit gerösteten Mandeln und einem jungen Mann, den ich heiraten und leidenschaftlich lieben kann“

Mir ist fast jede der zwischendurch immer wieder dargebotenen Geschichten ein wenig zu naiv. Wenn ich allerdings an meine eigenen Erfahrungen im Iran zurückdenke, wo ich von jungen Frauen im gebärfähigen Alter hörte, dass sie sich am Liebsten mit ihren Familien zusammensetzten um die schleimigen Liebesgedichte alter persischer Dichter zu rezitieren statt die Liebe selbst am eigenen Leib erfahren zu wollen, kann ich Schamis orientalische Art der Erzählung zumindest nachvollziehen – mögen muss ich sie deshalb noch lange nicht. Wenn aber von einem Mann erzählt wird, der in die Schule seiner Tochter bestellt wird und dort vor dem versammelten Lehrerkollegium nichts weiter zu sagen weiß als: „Hanan ist ein wunderbares Mädchen“ , diesen Satz als Antwort auf alle Vorwürfe der Lehrer gebetsmühlenartig wiederholt und diese damit unglaublich beeindruckt, frage ich mich dann doch, was uns Schami damit sagen und wem er damit imponieren will.

Auch das Lustigsein will gelernt sein, der Autor hat hier noch seinen Weg zu gehen. Ich jedenfalls konnte über keine der Furzgeschichten auch nur halb so herzhaft lachen wie das Zirkuspublikum, was sicher an meiner „abgebrühten“ westlichen Art liegt, die mich von den in der Tat weit weniger abgestumpften Menschen vor Ort unterscheidet. Doch frage ich mich, für welches Publikum das Buch geschrieben wurde, für das westliche oder das orientalische? Nun ja, auch die Herrschenden im betreffenden Lande verstanden nicht viel Spaß und schickten Nabil wegen einer der mehrdeutigen Storys, die den Regierungschef ein wenig verunglimpften, ins Foltergefängnis, aus dem er dann bald wieder entkam. Was ihm nicht viel half, verstarb er doch kurz darauf. Man sieht, auch die Politik macht vor dem Roman nicht halt – oder sollte man es lieber umgekehrt ausdrücken? Denn immerhin hat Schami schon Mitte der Neunziger Jahre, als er diese Geschichte schrieb, geahnt, dass sich in dieser Region der Erde etwas verändern muss und wird. Als hätte er die Bilder aus der heutigen Tagesschau damals schon vor Augen gehabt, wusste oder ahnte er bereits, dass es ordentlich zu rumoren beginnen würde und die alten Herrscher sich nicht ewig halten werden können. Geradezu prophetisch die Beschreibung eines Schauspielers, der während der Festlichkeiten anlässlich eines runden Staatsjubiläums im Regen steht wie gestern Gaddafi und Mubarak und heute Baschar al-Assad: „Die goldene Farbe rann in Strömen von seinem Körper und dennoch wollte er sein Podest nicht räumen.“

Schade, dass der Roman seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt und nach dem Tode Nabils mit der vorhersehbaren Heimreise des Zirkus endet, wo doch die beiden Alten während eines nachmorglichen Gesprächs über Valentins im Entstehen begriffenes Buch trefflich sinnieren:  „…das Ende muss offen bleiben, damit auch das, was in der Mitte der Geschichte passiert ist, nicht vergessen wird“

Sonntag, 2. September 2012

Das Ende ist mein Anfang – Tiziano Terzani


Ob es nun Zufall war, Schicksal oder Fügung, dass mir mein neuseeländisch-spanischer Freund dieses Buch während einer Indien-Reise im buddhistischen Klein-Tibet empfahl? Denn in Tibet, wo der Autor kurz vor Ende seines durch den Krebs relativ früh beendeten Lebens eine sehr lange Zeit mit einem alten Mönch abgeschieden von jeglicher Zivilisation verbrachte, lernte er die Lebensweisheiten, die ihn nun kurz vor dem Tod sein Ende voller Freude und Gelassenheit entgegensehen lassen. Diese teilt er mit seinem ebenfalls Indien-begeisterten Sohn während eines sich über Monate erstreckenden Gesprächs, das die beiden Weltenbummler in den italienischen Bergen führen, in denen Terzani bereits seine Kindheit verbrachte.

Doch bevor er seinem Sohn und uns Lesern die Angst vor dem Tod nimmt und uns eine Möglichkeit aufzeigt, wie wir das Leben in all seinen Facetten annehmen und jeweils unseren eigenen Weg finden können, erzählt er auf spannende Weise von seinen Erlebnissen als Reisejournalist. Man kann hier auf sehr komprimierte und kurzweilige Weise die Weltgeschichte (insbesondere aber nicht ausschließlich die des asiatischen Raums) der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nacherleben und dies immer mit den Augen und dem Verstand eines nachdenkenden, unkonventionellen und emsigen Beobachters.

Viel mutete Terzani seiner Familie zu, indem er aller paar Jahre das Land wechselte. So lebte er mit Frau und Kindern erst in Singapur, später im kommunistischen China, dann im für ihn so fürchterlichen Japan und schließlich in Thailand. Überall müssen sich die Kinder an eine neue Kultur gewöhnen, eine neue Sprache erlernen, einen neuen Freundeskreis aufbauen. Und nicht einmal die graue, kommunistische chinesische Einheitsschule erspart er ihnen (obwohl eine internationale vor Ort war!) und schickt sie dadurch in die beste Schule des Lebens. Mit Zug und Fahrrad die Dörfer erkunden, mit den einfachen Menschen in Kontakt kommen, selbst ins Leben eintauchen, während die anderen Journalisten sich bei den Pressekonferenzen volllügen ließen, das war ihm immer wichtig. Folco, der mittlerweile erwachsene Sohn, erzählt dem Vater von einem Nobelpreisträger, der meinte, deshalb so gut zu sein, weil er am Wochenende bergsteigen und tauchen ging, statt wie die anderen zu pauken. Denn dabei lernte er, was ihn von den anderen unterscheidet. Wie wünschte ich mir, dass auch hier im lernbesessenen Deutschland Familien von den Lehrern stärker unterstützt und nicht gebremst werden, die die Welt und das Leben erkunden wollen, auch wenn dies nicht mit den Ferienzeiten in Einklang zu bringen ist. Wir selber haben es in Neuseeland kennen- und schätzen gelernt, wo die Lehrer meinten, dass Reisen doch die beste Schule wäre.


Terzani macht keinen Hehl daraus, dass er als junger Mann von Che Guevara, Fidel Castro und Mao tse tung beeindruckt war, die zumindest anfangs eine Idee davon hatten, wie dem aufdringlichen und hemmungslos aggressiven Kapitalismus zu begegnen wäre. Freilich erkennt auch er bald, dass die Opferung von Millionen Menschen auf dem Scheiterhaufen der (angeblichen) Gleichheit nicht minder grausam ist.

Obwohl seine Sympathien ganz eindeutig und aufrichtig bei den linken Kräften im (asiatischen) Freiheitskampf lagen, wagt er die ketzerische Frage, die er selbst als schrecklich bezeichnet, zu stellen: Wäre es nicht doch vielleicht besser gewesen, wenn in Vietnam, China, Kambodscha usw. die anderen gewonnen hätten? Denn mittlerweile ist auch in all diesen Ländern der Kapitalismus eingezogen, nur unter dem Deckmantel des Sozialismus, was keine gute Symbiose darstellt. „Wenn es darum geht, mit kommunistischem Autoritarismus den Kapitalismus durchzusetzen, dann ist es sinnvoller, man lässt gleich die Kapitalisten ran“. Genauso wie in den Ostblockländern nach dem Krieg wurde auch in Asien und Kuba die Chance vertan, mit ein bisschen mehr Großmut und Überzeugungskraft eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen.
Terzani ist sogar der Ansicht, dass alle Revolutionen umsonst waren (wahrscheinlich kannte er die friedliche in der DDR nicht wirklich), denn auch unter gleichen Menschen gibt es immer welche, denen eine Reisschale und eine Jacke nicht genügen, sondern die mehr als die anderen haben wollen. Man könne gegen die menschliche Natur ebenso wenig unternehmen wie gegen die Evolution. Dies sei der Grund für das Scheitern des Sozialismus. Und wenn man sich Saigon, Moskau oder Peking heute anschaue, dann müsse man sich die Frage stellen, ob diese Städte nicht ohne die Revolutionen genauso geworden wären. Allerdings viele Jahre früher und ohne die vorausgeangenen Massenmorde eines Mao, Stalin, Pol Plot…

Terzani erklärt seinem Sohn den Zusammenhang zwischen dem Ende des Kommunismus und dem Entstehen des islamischen Fundamentalismus. In beiden stehe der Kampf gegen den Kapitalismus und für eine bessere Welt im Vordergrund, nur ist weder die eine noch die andere Ideologie legitimiert, diesen Kampf mit solch unlauteren Mitteln zu führen, wie sie es in der Vergangenheit taten bzw. heute versuchen.

Als Terzani, der weiß, dass er in wenigen Wochen seinem Krebsleiden erliegen wird und oft furchtbare Schmerzen erleiden muss, gefragt wird, wie es ihm gehe antwortet dieser: „Bestens! Ich bin in einer wunderbaren Verfassung. Alles, was ich beim Warten auf mein Ende sehe, schließt den Kreis“. So wie der chinesischen Zen-Meister auf die Frage nach dem „Sinn von alledem“ einfach nur mit einem Pinsel einen Kreis malte, verwirklicht sich auch für diesen starken Mann sein Traum, in dem er mit diesem Gespräch und den damit verbundenen Lebensreflexionen den Kreis seines Lebens schließt. Diese mit Leben und Tod versöhnte Einstellung ist nicht nur bewunderns- sondern doch auch wirklich absolut erstrebenswert.

Doch auch viele materielle Dinge hat Terzani von seinen zahlreichen Reisen mitgebracht und angesammelt. Doch hat er im Verlaufe seines Lebens erkannt, was den meisten von uns noch zu erkennen bevorsteht: „Ein Sarg mit Gepäckträger ist noch nicht erfunden worden“. Und so hat er Vieles verschenkt und nur sehr wenig behalten. Ihm ist bewusst geworden, dass zwischen den ganzen schönen Häusern, die er bewohnte und dem schlichten Sarg, in dem er bald liegen wird nur noch ein letzter Traum liegt: „Das Baumhaus, das du dir als Kind immer gewünscht hast, mitten im Laub…“. Und so verbringt er seine letzten Tage nun in seiner kleinen Gompa, einer 6 Quadratmeter großen Hütte mitten in der Natur und ist glücklich darin. Warum aber mit dem Glücklichsein warten, bis man dem Tod ins Angesicht schaut? Ein Gartenhaus, ein Hausboot, ein Bauwagen – das alles gibt es schon und man kann es sich mit wenigen Dingen sehr gemütlich einrichten…

Die Antworten auf die für sein eigenes Leben entscheidenden Fragen hat Terzani gefunden. Aber an den Fragen hinsichtlich der Zukunft der Welt und ihrer vielfältigen Kulturen verzweifelt auch der alte Mann. Er möchte gern die birmesischen Frauen, die heute ihre Haut mit selbstgemachter Sandelholzpaste einreiben und ein langsames, ruhiges Leben verbringen, vor dem Einzug der Niveacreme warnen. Vor dem Beton, den Wolkenkratzern und den Bordellen, vor Coca Cola, Marlboro und engen Jeanshosen. Und doch weiß er, dass Ragoon bald wie Bangkok aussehen, und das Öl die großen Konzerne anziehen wird. Er kann es nicht verstehen, dass auch die Chinesen Krawatten tragen und sich Gürtel um den Bauch binden, wo dies doch den Energiefluss des Qi unterbindet? Wie kann man die schlimmsten Krankheiten in den armen Regionen heilen ohne die noch viel schlimmere Krankheit des Unglücklichseins, die der Einzug der westlichen Zivilisation und des Fernsehers unweigerlich mit sich bringen, gleichzeitig einzuschleppen? „Ist es möglich, die Schönheit der Welt zu retten, die in ihrer Vielfalt besteht?“

Der alte, sterbende Mann ist hin- und hergerissen zwischen Skepsis, was die Zukunft der Menschheit angeht, und der Hoffnung, dass diese sich vielleicht doch weiterentwickeln könnte. Er beklagt, dass wir seltsame Geschöpfe in den vielen Jahrtausenden unserer Existenz nicht ein bisschen reifer geworden wären, der Mensch sich um keinen Deut gebessert habe und immer noch Angst vor dem Tod und tausend anderen Dingen habe. Doch schließlich habe sich der Affe doch auch zum Menschen weiter entwickelt, warum sollte diesem dann nicht gelingen, auch endlich einen Schritt nach oben zu gehen? Der an keinen bestimmten Gott glaubende Terzani drückt seine Hoffnung aus, dass vielleicht doch noch ein neuer Prophet auftauchen werde und die Menschheit, diesem folgend, zur Liebe zur Erde und unseren Nachbarn zurückkehren werde. Er ermuntert uns alle, in dem er uns die wichtige hinduistische Lehre zuruft: „Tu, was Du tun musst. Ob die Welt dann überlebt oder nicht, liegt nicht in deiner Hand“.

Aus der Reihe tanzen, eingefahrene Wege verlassen, Risiken eingehen, Sicherheit und Bequemlichkeit verlassen, die Suche in Angriff nehmen, dies alles empfiehlt uns Terzani. Dabei muss noch gar nicht einmal klar definiert sein wonach wir genau suchen. Denn: „Wer schon weiß, was er sucht, wird nie finden, was er nicht sucht… und dabei ist es vielleicht ausgerechnet das, was zählt…?“

Sehr interessant und nachvollziehbar ist für mich die Idee, zuerst am eigenen Ich zu arbeiten. In der Stille sich selbst zu suchen und zu probieren, all die Gedanken, die sich in unserem Kopf ständig wiederholen, anzuhalten und zum Schweigen zu bringen. „In der Stille findet man dann vielleicht einen oder zwei Gedanken, die wirklich neu sind.“ In unserer heutigen Welt ist es aufgrund der unendlich vielen Reize, die dem Geist keine Ruhe lassen, unmöglich, einem längeren Gedankengang zu folgen, weil man ständig unterbrochen wird. Würde man sich jedoch in die Stille zurückziehen…

Weil Terzani genau dies getan hat und er sich jahrelang zu einem alten, weisen Mann in den Himalaya zurückgezogen hat, um still zu sein, fällt ihm nun das Loslassen so leicht. Er hat alles erreicht, was ein Mann erreichen kann, hinterlässt eine intakte Familie und hat mehrere Bücher geschrieben (von denen mit Sicherheit zu einem späteren Zeitpunkt an dieser Stelle mindestens eines behandelt werden wird). Selbst seinen Krebs sieht er nun sogar als Geschenk, was wohl Keinem, der daran leidet, zu sagen einfiele und selbst mir als Nicht-Betroffenen einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Nun gut, zwei gesunde, schöne Kinder habe ich gezeugt, ein Haus gebaut und allerhand gepflanzt, bleibt mir nur noch das Buch.

Überwältigend, wie der zur Ruhe gekommene nun auf seinen kurz bevor stehenden Tod blickt. Er freut sich an dem Satz, den der Gott Krishna gesagt hat: „Alles, was geboren wird, stirbt, und alles, was stirbt, wird wieder geboren“. Doch gilt diese Aussage für Terzani nicht im sprichwörtlichen Sinn, er erhofft sich nicht, als neues Lebewesen bald auf die Erde zurück zu kehren. Er hat ganz einfach die westliche Illusion, nach der die Zeit immer geradlinig verläuft, hinter sich gelassen, da sie nicht vorwärtsgerichtet ist. Denn alles wiederholt sich immer wieder, alle Revolutionen und alle Kriege, Schöpfung und Vernichtung. Für ihn steht fest, dass die Zeit kreisförmig verläuft, wie es der Zen-Mönch an seinem Lebensende aufgemalt hat. Er hat überhaupt keine Angst vor dem Sterben, weil er während der einsamen Jahre in der Hütte im Himalaya gelernt hat, auf alle Wünsche zu verzichten. Für Terzani ist dies die letzte große Form von Freiheit. Auch wenn man sich, so wie ich, an manch einem Wunsch und der Möglichkeit für dessen Erfüllung freuen kann und (noch) nicht so weit ist, dass man ohne Wünsche leben will, so berühren diese Worte und stärken jeden, der dieses wunderschöne, kluge Buch liest. Man nimmt eine gewisse Gelassenheit mit in den Alltag und beginnt mit der Suche. Wonach? Finde es heraus!


______________________________________________
Und hier noch die Auflistung der von Tiziano Terzani selbst geschriebenen Bücher:



 

- Noch eine Runde auf dem Karussell: Vom Leben und Sterben

- Fliegen ohne Flügel: Eine Reise zu Asiens Mysterien

- Asien, mein Leben - Die großen Reportagen

- Meine asiatische Reise: Fotografien und Texte aus einer Welt, die es nicht mehr gibt

- In Asien: Mentalität · Kultur · Politik

- Briefe gegen den Krieg